Polizeischüsse in Dortmund: Das wissen wir über den Fall Mouhamed Dramé

Stand: 18.11.2022, 16:14 Uhr

Nach den tödlichen Polizeischüssen auf einen 16-jährigen Senegalesen in Dortmund kommen nach und nach neue Erkenntnisse ans Licht. Das wissen wir bislang über den Fall - und das nicht.

Am 8. August hatte Mouhamed Dramé, ein 16-jähriger Flüchtling aus dem Senegal, im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund mit einem Messer hantiert, möglicherweise in Suizidabsicht. Ein Zeuge hatte daraufhin per Notruf die Polizei alarmiert und war, bis die Einsatzkräfte eintrafen, in der Leitung geblieben - und auch noch danach. Insgesamt zwölf Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte waren an dem Einsatz beteiligt, vier von ihnen in Zivil.

Wie lief der Polizeieinsatz ab?

Die Polizeikräfte sprachen den jungen Mann an - in welchen Sprachen, ist allerdings unklar. Zunächst hieß es, er sei auf Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Deutsch angesprochen worden, später wurde dies vom ermittelnden Staatsanwalt korrigiert und es hieß, die Ansprache erfolgte auf Deutsch und Spanisch. Nach WDR-Informationen, die sich auf Vernehmungsprotokolle der beteiligten Polizisten beziehen, hat ein Beamter Mouhamed auf Spanisch gefragt, ob er Spanisch spreche und wie es ihm gehe. Ein anderer Polizist habe ihn lediglich mehrfach kurz gerufen. Der junge Mann sprach den Ermittlungen zufolge Französisch, Spanisch und eine afrikanische Sprache. "Dass der Getötete von diesen (den Einsatzkräften, d.Red.) zum Weglegen des Messers aufgefordert wurde, haben die Ermittlungen nicht ergeben", schrieb der Staatsanwalt ein seinem Bericht.

Nach WDR-Informationen zeigt die Auswertung des Polizeifunkverkehrs, dass bereits weniger als zwei Minuten nach der erfolglosen Ansprache der Befehl zum Einsatz des Pfeffersprays kam. Der Einsatzleiter habe angeordnet, dass die ganze Flasche eingesetzt werden soll. Da sein erster Befehl nicht verstanden wurde, wiederholte er dies. Relativ schnell nach dem Einsatz des Pfeffersprays setzte eine Beamtin ein Distanzelektroimpulsgerät (DEIG), einen sogenannten Taser, ein, verfehlte Mouhamed Dramè aber offenbar.

Die Elektroden aus dem zweiten Taser-Schuss eines weiteren Beamten trafen den Jugendlichen offenbar am Glied und am Unterbauch. Das habe den 16-Jährigen nicht gelähmt, ihm aber wahrscheinlich weh getan, heißt es in einem Bericht an den Landtag. Unmittelbar danach schoss ein Polizeibeamter sechs Mal mit seiner Maschinenpistole. Vier Schüsse trafen und verletzten den jungen Mann tödlich. Eine Warnung, sowohl vor dem Einsatz des Pfeffersprays als auch vor den Tasern und der Schusswaffe ist laut Auswertung des Polizeifunkverkehrs nicht erfolgt.

Wie war der zeitliche Ablauf?

Nach WDR-Informationen geht aus dem Dortmunder Polizeifunkverkehr hervor, dass zwischen dem Einsatz des Pfeffersprays und den fast zeitgleichen Taser- und Maschinenpistolen-Schüssen nicht einmal 20 Sekunden lagen. Und das, obwohl Mouhamed bis dahin ruhig in einer Ecke gesessen und niemanden bedroht haben soll, wie Polizisten laut WDR-Informationen in ihren Vernehmungen ausgesagt haben. Erst nachdem der Einsatzleiter angeordnet habe, den 16-Jährigen mit Pfefferspray anzugreifen, sei die Situation binnen Sekunden eskaliert.

War Mouhamed Dramé aggressiv?

Ein Polizist sagte laut Vernehmungsprotokoll, er habe kein aggressives Verhalten von Mouhamed Dramé wahrgenommen. Ein anderer kam zu der Einschätzung, dass der 16-jährige die Polizei vor dem Einsatz des Pfeffersprays gar nicht bemerkt hat, weil er die ganze Zeit nach unten geschaut habe. Nach Auskunft von Lisa Grüter, der Anwältin von Mouhameds Familie, ist die Lage ruhig und statisch gewesen, der Jugendliche sei plötzlich von der Polizei mit Pfefferspray eingesprüht worden: "Ohne Vorwarnung, ohne Androhung. Und dann reagiert er darauf, in dem er sich aufrichtet und umguckt, was da überhaupt passiert ist."

Warum ist das genaue Verhalten des 16-Jährigen wichtig?

Das Verhalten des 16-Jährigen nach dem Einsatz von Pfefferspray und Tasern ist wichtig, weil daraufhin die tödlichen Schüsse fielen. Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht deshalb die Frage, ob die Schüsse zur Sicherung der Kollegen nötig waren. "Ich bezweifele, dass dem Jugendlichen klar war, in welcher Situation er sich überhaupt befand", erklärte Marc Lürbke, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im WDR. Der Jugendliche habe gar keine andere Wahl gehabt, als aus der Ecke, in der er sich befand, auf die Beamten zuzugehen, so Lürbke. Zu dieser Einschätzung kommt auch die Anwältin der Familie des Getöteten, Lisa Grüter.

Nach einem toxikologischen Gutachten stand der 16-Jährige nicht unter Drogen- und Alkoholeinfluss, als er die Polizisten mit einem Messer bedroht haben soll.

Unklar ist weiterhin, in welcher Hand Mouhamed das Messer hielt. Laut Staatsanwaltschaft konnte der überwiegende Teil der Zeugen hierzu keine validen Angaben machen. Ein Zeuge will sich allerdings sicher sein, dass der 16-Jährige das Messer in seiner rechten Hand gehalten habe. Auch ist laut Staatsanwaltschaft nicht klar, ob er das Messer gegen seinen eigenen Bauch gerichtet hielt, wie es in ersten Berichten hieß, oder ob er es drohend gegen die Beamten richtete.

Gibt es Aufzeichnungen von dem Einsatz?

Die Bodycams der beteiligten Beamten waren bei dem Einsatz nicht eingeschaltet. Weil aber der Zeuge, der den Notruf getätigt hatte, in der Leitung geblieben war, existiert ein Tonmitschnitt des Einsatzes. Das Bundeskriminalamt (BKA) kommt nach dessen Auswertung zu dem Ergebnis, dass zwischen dem Taser-Geräusch und dem ersten Schuss aus der Maschinenpistole 0,717 Sekunden lagen.

Was hat die Auswertung der Mobiltelefone der Polizisten ergeben?

Offenbar nichts. Laut Justizministerium gibt es nach Auswertung der Telefone der Polizeibeamten keine Hinweise darauf, dass sich die Beteiligten für das Ermittlungsverfahren abgesprochen hätten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen insgesamt fünf beteiligte Beamte.

Warum hatten die Beamten eine Maschinenpistole dabei?

Nach Angabe des NRW-Innenministeriums tragen Polizeikräfte normalerweise eine Pistole vom Typ Walther P99 bei sich. Aufgrund der "gegenwärtigen abstrakten Terrorgefahr in Deutschland" seien zusätzlich seit Juli 2018 jeweils zwei Maschinenpistolen vom Typ MP5 in jedem Funkstreifenwagen vorhanden. Diese seien "aufgrund der besonderen Visierung sowie der stabileren Waffenhaltung insbesondere für weitere Distanzen geeignet". Warum der Beamte die Maschinenpistole eingesetzt hat, ist noch unklar.

War der Einsatz von Tasern erlaubt?

In NRW läuft bis 2024 eine Testphase für den Taser-Einsatz. Hier wird die Waffe - im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern - auch von Streifenbeamten eingesetzt. In der Dienstanweisung dazu heißt es: "Grundsätzlich nicht geeignet sind DEIG zur Bewältigung von dynamischen Lagen im Kontext von Bedrohungen oder Angriffen mit Hieb-, Stich, Schnitt- oder Schusswaffen." Von einer dynamischen Situation spricht die Polizei, wenn sich beispielsweise ein Verdächtiger oder ein Angreifer bewegt.

Die FDP im Düsseldorfer Landtag kritisiert, die Polizei selbst habe durch den Einsatz des Pfeffersprays erst eine dynamische Situation geschaffen, nachdem der Jugendliche zuvor ruhig mit dem Messer an eine Wand gelehnt gesessen habe.