Bestatter tragen einen Sarg mit einem nicht identifizierten Zivilisten, der während der russischen Besatzung in Butscha ermordet wurde.

Kommt Russland wegen Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof?

Stand: 02.04.2024, 17:29 Uhr

Beobachter gehen davon aus, dass im Ukrainekrieg Kriegsverbrechen geschehen sind. Ob und wie Russland dafür vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden kann, wird am Dienstag in Den Haag besprochen.

Von Nina Magoley

Die bekannten Zahlen variieren, doch schon die Schätzung der UN klingen verheerend: Gut zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind nach Zählung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) mindestens 10.675 Zivilisten gestorben, mindestens 20.080 wurden verletzt. Das ist der Stand vom 29. Februar 2024.

 Ein Ermittler trägt eine Weste mit der Aufschrift «War Crimes Prosecutor» («Ankläger für Kriegsverbrechen») und beginnt damit, neben Leichen aus einem Massengrab hinter der Kirche St. Andreas Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln (11.04.2022).

Leichen nach dem Massaker in Butscha

Allein die Zahlen der Toten sind noch kein Beweis dafür, dass Kriegsverbrechen stattgefunden haben - das ist die kalte Logik eines jeden Krieges. Dennoch scheint der Zusammenhang im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mittlerweile für viele Staaten offensichtlich. Schon zu Beginn des Krieges blickte die Welt geschockt auf Bilder aus dem ukrainischen Ort Butscha bei Kiew, wo russische Soldaten offensichtlich ein Massaker unter Zivilisten angerichtet hatten. Auf den Straßen des Ortes lagen Leichen, viele mit auf den Rücken gebundenen Armen und Spuren von Misshandlungen am Körper. Zahlreiche weitere Berichte untermauern den Vorwurf von Kriegsverbrechen seitdem.

39 Staaten beauftragen Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlung

Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag

Mittlerweile haben 39 Vertragsstaaten die Chefanklage des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit Ermittlungen beauftragt. Auf einer Konferenz wird am Dienstag beraten, ob und wie im Zusammenhang mit dem Krieg mögliche Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden können. Eingeladen dazu hat das niederländische Außenministerium. Mit dabei sind zahlreiche europäische Minister, die Staatsanwaltschaft der Ukraine und internationale Ermittler.

Chefankläger Karim Khan hat bereits vier internationale Haftbefehle gegen hochrangige Russen erlassen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, darunter auch gegen Präsident Wladimir Putin. 

Was ist ein Kriegsverbrechen?

Als Kriegsverbrechen werden in Deutschland laut Bundesjustizministerium "schwere Verstöße gegen Regelungen des humanitären Völkerrechts" bezeichnet. Dazu zählen:

  • Tötung, Geiselnahme, Folter und Vergewaltigung von Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen
  • Angriffe auf die Zivilbevölkerung, auf Krankenhäuser, Kirchen, Schulen, Universitäten und Denkmäler
  • Plünderungen und Zerstörung von Eigentum
  • Angriffe auf humanitäre Hilfsmissionen, friedenserhaltende Missionen und auf Missionen des Roten Kreuzes
  • Verwendung von biologischen, chemischen Waffen und Atomwaffen

Wie können solche Kriegsverbrechen geahndet werden?

Das geht zum einen national, also innerhalb eines Landes, das die Notwendigkeit zu Ermittlungen sieht - selbst, wenn die Verbrechen in einem anderen Staat stattfinden. In Deutschland ermittelt dann der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof. Auch zum Ukrainekrieg laufen bereits Ermittlungen beim Generalbundesanwalt. Dazu wurde sogar ein eigenes Referat eingerichtet.

74 Zeugen hat das Bundeskriminalamt (BKA) nach WDR-Informationen bereits zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine vernommen. Auch Foto- und Videomaterial aus sozialen Netzwerken und Satellitenbilder der Bundeswehr werden ausgewertet.

Beim BKA geht man aber davon aus, dass möglicherweise erst in einigen Jahren tatsächlich Haftbefehle gegen bestimmte Personen erwirkt werden könnten - etwa gegen hochrangige Kommandeure der russischen Armee oder auch die politische Führung im Kreml.

Auch zahlreiche andere Staaten haben nationale Ermittlungen gegen Russland aufgenommen. "Das hat es in dieser Dichte selten während eines noch laufenden so dramatischen Konflikts gegeben", sagte Claus Kreß, Professor für internationales Strafrecht an der Universität Köln, am Dienstag dem WDR.

Ukraine-Krieg: "Schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht"

WDR 5 Morgenecho - Interview 02.04.2024 09:41 Min. Verfügbar bis 02.04.2025 WDR 5


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Wer kann in Den Haag angeklagt werden?

Wenn der eigentlich zuständige Nationalstaat "nicht in der Lage oder nicht willens" ist, die Strafverfolgung zu betreiben, tritt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im niederländischen Den Haag in Aktion. Er soll helfen, das internationale Völkerstrafrecht "wirksamer durchzusetzen" und kann Anklage bei besonders schwerer Straftaten in vier Kategorien erheben:

  • Völkermord
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit - dazu zählen unter anderem Mord, Vergewaltigung, Verschwindenlassen, Sklaverei, Folter, Apartheid
  • Kriegsverbrechen - wie Folter, Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen oder Forschungseinrichtungen, historische Denkmäler und religiöse Bauten
  • Verbrechen der Aggression - bewaffnete Angriffe eines Staates gegen die Eigenständigkeit anderer Staaten

Die mehr als 120 Mitgliedsstatten schließen sich dem Urteil des Strafgerichtshofs an. Nicht dabei sind unter anderen Russland, die USA und China. Verurteilte verbüßen ihre Haftstrafe schließlich in einem der Länder, die jeweils an der Anklage beteiligt sind.

Warum sind Verfahren am Internationalen Gerichtshof oft zäh?

Christian Kemperdick vor einem Bücherregal

In Den Haag gelistet: Anwalt Christian Kemperdick

Seit seiner Gründung im Jahr 2002 hat der Internationale Strafgerichtshof insgesamt 54 Personen angeklagt, nur neun davon wurden zu einer Strafe verurteilt. Die Gründe seien vielfältig, sagt Christian Kemperdick, Strafverteidiger in Köln und beim IStGH gelisteter Rechtsanwalt. Zum einen könne der IStGH nur gegen Individuen verhandeln, nicht gegen ganze Staaten. Prozesse dürften nur gegen Angeklagte eröffnet werden, die persönlich anwesend sind.

"Vor allem aber hat der Internationale Strafgerichtshof keine eigene Polizei", erklärt Kemperdick. Zwar könne er die Mitgliedsstaaten zur Verhaftung und Auslieferungen der Beschuldigten verpflichten - in der Realität aber sei es "meist schwierig, der Angeklagten habhaft zu werden".

Bis es zu einer Anklage kommt, müssen Ermittler Beweise sammeln - meist vor Ort in den Regionen, wo die Taten geschehen sind: "Wie waren die Befehlsstrukturen? Wer wusste was?" Schließlich sei das Ziel, "die großen" Beteiligten zu erwischen.

Auch sei zu klären, ob einzelne Vorgehen wirklich als Kriegsverbrechen definiert werden können. Nach Artikel 8 des "Römischen Statuts", auf das sich der Internationale Strafgerichtshof gründet, gelten Verbrechen dann als Kriegsverbrechen, "wenn diese als Teil eines Planes oder einer Politik der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden".

So grausam und inakzeptabel also ein einzelner Mord ist:

"Erst durch Quantität werden Verbrechen zu Kriegsverbrechen" Christian Kemperdick, Strafverteidiger

Oft müssten deshalb hunderte Zeugen befragt werden. Auch würden sich die Ermittler bei ihren Recherchen nicht selten selber in Gefahr begeben.

Dass im Fall des Ukrainekriegs mehr Tempo in die Arbeit des IStGH kommen könnte, bezweifelt Kemperdick. Zwar haben 40 Länder Klage erhoben - doch für ein Verfahren müssten russische Verantwortliche festgenommen und ausgeliefert werden. Das hält der Anwalt für unwahrscheinlich.

Würde Putin in Den Haag angeklagt?

Seit 2022 sind Ermittler im Auftrag des Internationale Strafgerichtshofs in der Ukraine unterwegs, um Beweise zu sammeln, die ein Kriegsverbrechen belegen könnten. Laut Chefankläger Karim Asad Ahmad Khan gibt es eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden.

Russlands Präsident Wladimir Putin, Archivbild: 14.03.2024

Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin

Im März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er sei mutmaßlich für die rechtswidrige Deportation von Kindern und Umsiedlungen aus besetzen Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation persönlich verantwortlich. Khan bezweifelt laut eigener Aussage jedoch selber, dass russische Offiziere oder gar der russische Präsident in Den Haag landen werden: Russland müsste sie dafür ausliefern.

Dass es zu einer Anklage kommt, sei indessen sehr wahrscheinlich, sagt Strafrechtler Kreß. Der Angriff auf die Ukraine sei ein besonders schwerer Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot. Hinzu kämen weitere schwere Verletzungen des Völkerrechts, auch mit Blick auf die Art der russischen Kriegsführung gegen die Ukraine. Von gezielten Angriffen auf zivile Ziele über den Umgang mit Kriegsgefangenen bis hin zu systematischen Verbrechen auch an Zivilisten in besetzten Gebieten - wie Folter und Vergewaltigungen.

Welche Urteile gab es in Den Haag bereits?

Derzeit laufen in Den Haag mehrheitlich Verfahren gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher aus afrikanischen Staaten. Oft ziehen sich diese Fälle über viele Jahre. Einige Beispiele:

  • 2012 wurde nach dreijährigem Verfahren der kongolesische Milizenführer Thomas Lubanga zu 14 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.
  • 2016 definierte das Gericht in Den Haag erstmals die Zerstörung historischer religiöser Bauten in Timbuktu im afrikanischen Mali als Kriegsverbrechen. Der Al Kaida-Verbündete Ahmad Al Faqi Al Mahdi wurde als Hauptverantwortlicher zu neun Jahren Haft verurteilt.
  • 2018 beantragten fünf südamerikanischen Staaten sowie Kanada Ermittlungen gegen die Regierung Venezuelas. Sie werfen ihr Menschenrechtsverletzungen vor.
  • 2021 wurden die beiden früheren Chefs des serbischen Sicherheitsdienstes, Jovica Stanišić und Franko Simatović, verurteilt - wegen Beihilfe zu Mord, Verfolgung und Vertreibung während des Bosnienkriegs.

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