Wird die Kohle unter Lützerath gebraucht?

Stand: 16.01.2023, 17:51 Uhr

Die Kohle unter der Ortschaft Lützerath soll abgebaggert werden. Alternativlos nennen das die einen, völlig unnötig die anderen. Das sind die Argumente.

Nach der Demonstration am Samstag wird derzeit viel über Gewalt, Schuldzuweisungen und das Verhältnis von Polizei und Aktivisten diskutiert und berichtet. Dabei rückt eine Sache etwas in den Hintergrund, um die es eigentlich geht: die Braunkohle, die unter Lützerath liegt. Sie soll abgebaggert werden und das kleine Dorf deshalb weichen. Alternativlos nennen das die einen, völlig unnötig die anderen.

Es steht also die Frage im Raum: Wird die Kohle unter Lützerath benötigt oder nicht? Die Antwort darauf fällt komplett unterschiedlich aus - je nachdem, welche Seite gefragt wird. So sagt NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur von den Grünen:

"Um die Energieversorgungssicherheit gewährleisten zu können jetzt für diesen Winter und den nächsten, ist es leider notwendig, die unter Lützerath liegende Kohle zu verwenden." Mona Neubaur

Auch beim Energiekonzern RWE, der den Tagebau betreibt, wird so argumentiert. Ganz anders klingt das hingegen bei Klimaaktivisten wie Luisa Neubauer:

"Für Energiesicherheit in der Krise braucht es die Kohle unter Lützerath nicht." Luisa Neubauer

Vor Gericht würde es wohl heißen: Aussage gegen Aussage. Dabei berufen sich beide Seiten auf Gutachten, die in letzter Zeit erstellt wurden und die eigene Position untermauern sollen.

Kohle wird für Stromproduktion benötigt

Die NRW-Landesregierung verweist auf insgesamt drei Gutachten, die sie in Auftrag gegeben hat. Sie alle kämen zu dem Schluss, dass ein Erhalt von Lützerath nicht möglich sei. "Sich darüber hinwegzusetzen wäre unverantwortlich", heißt es auf Anfrage aus dem Wirtschaftsministerium. Zusammenfassen lassen sich die Argumente so:

  • Die Kohle unter Lützerath wird benötigt, weil wegen der Energiekrise die Kraftwerke von RWE mehr Kohle zur Stromproduktion brauchen.
  • Zudem wird die Erde gebraucht, die neben der Kohle auch abgebaggert wird, damit die Rekultivierung des Tagebaus in Zukunft funktioniert und die Böschungen gesichert werden.
  • Es kann nicht um Lützerath herum gebaggert werden, weil eine solche Halbinsel dann nicht sicher wäre.

Vor allem die angeblich benötigte Menge an Kohle wird diskutiert. Die Landesregierung sagt, dass bis 2030 noch 187 bis 238 Millionen Tonnen Braunkohle aus dem Tagebau Garzweiler benötigt werden. Würde auf die Kohle unter Lützerath verzichtet, könnten nur noch maximal 170 Millionen Tonnen Braunkohle gewonnen werden - also zu wenig. Deshalb heißt es in einem Bericht des Wirtschaftsministeriums:

"Trotz der Unterstellung eines Braunkohleausstiegs in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2030 ist daher in sämtlichen betrachteten Szenarien festzustellen, dass die unterhalb von Lützerath liegende Braunkohle für die Deckung der bis dahin bestehenden energiewirtschaftlichen Kohlebedarfe zur Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit gebraucht wird." NRW-Wirtschaftsministerium

Andere Studie: Deutlich weniger Kohle nötig

In den Reihen der Klimaaktivisten wird das ganz anders gesehen. Auch dort wird mit Gutachten argumentiert, die die eigene Position stützen. So hat die kohlekritische Kampagne "Europe Beyond Coal" beim Beratungsunternehmen Aurora Energy Research eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: In Garzweiler müssen nur noch 93 bis 124 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden - wenn im benachbarten Tagebau Hambach die maximale Menge an Kohle herausgeholt wird. Die Kohle unter Lützerath würde also nicht gebraucht.

Kohle für Veredelung ist der Knackpunkt

Doch wie entsteht der große Unterschied zu den von der Landesregierung genannten mindestens 187 Millionen Tonnen Kohle? Ganz einfach: Aurora hat nur die Kohle berechnet, die angeblich zur Stromproduktion gebraucht wird. Das ist aber nur ein Teil, was mit der Kohle aus dem Tagebau passiert. Ein anderer wird für die sogenannte Veredelung gebraucht. Damit sind Braunkohleprodukte wie Briketts, Kohlestaub oder Koks gemeint, die RWE für die Industrie oder private Verbraucher herstellt.

"Vollkommen unrealistische Annahme"

Die Menge an Kohle, die in den kommenden Jahren für die Veredelung gebraucht wird, wird von der Landesregierung auf 55 Millionen Tonnen geschätzt. Ein Sprecher der Organisation BUND NRW nennt das eine "vollkommen unrealistische Annahme". Denn die meiste Kohle für die Veredelung komme eh aus einem anderen Tagebau und außerdem sei schon Ende 2022 eine Brikettfabrik in Frechen geschlossen worden. Soll heißen: So viel Kohle wird gar nicht mehr für die Veredelung gebraucht und deshalb ist es legitim, nur auf die Kohle für die Stromproduktion zu schauen - für die Lützerath nicht abgebaggert werden müsste.

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Die Landesregierung geht diese Rechnung nicht mit. Zwar räumt sie ein, dass mittelfristig wegen der Klimaschutzziele weniger Veredelungsprodukte gebraucht werden. "Es ist jedoch aufgrund des Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen Bestrebungen vieler Unternehmen, ihre Verbrennungsprozesse zumindest übergangsweise nicht auf Gas umzustellen und so Gas einzusparen, nicht mit einem sinkenden Braunkohlebedarf für die Veredelung zu rechnen", heißt es. Bedeutet: Auch für die Veredelung wird Kohle benötigt und deshalb muss Lützerath abgebaggert werden.

Auch andere Analysen wie die der "CoalExit Research Group" und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kamen zuletzt zu dem Ergebnis, dass die Energieversorgung auch ohne die Kohle unter Lützerath möglich wäre. Andere Untersuchungen behaupten zudem, dass sowieso nicht so viel Kohle aus der Erde geholt und verfeuert werden darf, weil sonst das Pariser Klimaziel nicht erreicht werden kann. "Mit dem 1,5-Grad-Limit ist die Verbrennung der Kohle unter Lützerath nicht vereinbar", heißt es bei Greenpeace.

Auswirkungen auf den Emissionshandel befürchtet

Wilfried Rickels, Leiter des Forschungszentrum Klimapolitik an der Universität Kiel, sagt hingegen mit Bezug auf den Emissionshandel: "Die CO2-Emissionen, die entstehen, wenn die Kohle unter Lützerath verstromt wird, haben keine Auswirkungen darauf, ob das 1,5-Grad Ziel erreicht wird oder nicht." Allerdings könnte durch die zusätzliche bzw. vorgezogene Braunkohleverstromung der CO2-Preis möglicherweise steigen und zu einer Aufweichung des Emissionshandels führen. Dann wären die Auswirkungen für die Klimapolitik negativ, so Rickels.

Dass sich die Gutachten von Landesregierung und Klimaaktivisten so stark unterscheiden, sieht Rickels darin begründet, dass diesen jeweils stark unterschiedliche Annahmen zugrunde liegen, was etwa den zukünftigen Strombedarf, die Gaspreise oder den Ausbau der Erneuerbaren Energien angeht. "Welche Kombination aus Annahmen sich einstellen wird und ob diese dann ausreichend wäre, um die Braunkohle dann gar nicht mehr zu verstromen, kann man wissenschaftlich nicht seriös beantworten", sagte er in einer Mitteilung.

Michael Sterner, Leiter der Forschungsstelle Energienetze und Energiespeicher an der TH Regensburg, bezeichnete die Braunkohle unter Lützerath in einer Mitteilung als "für die technische Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht zwingend notwendig." Für ihn ist der Abbau "marktwirtschaftlich getrieben und damit letztlich eine politische Entscheidung".
Sterner verwies auf die "internationale Wirkung der Bilder einer Räumung Lützeraths in Bezug auf die Klimaziele der Bundesrepublik samt Energiewende". Diese seien nicht zu unterschätzen.

Egal welche Seite mit ihren Gutachten am Ende richtig liegen mag. Alle Beteiligten befinden sich derzeit in einem Kampf um die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit und bei der Bevölkerung. In den kommenden Tagen und Wochen dürfte sich zeigen, welche Seite den gewinnen kann.

Der Kampf um Lützerath WDR RheinBlick 06.01.2023 28:41 Min. Verfügbar bis 04.01.2029 WDR Online

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