Auf dem Evangelischen Kirchentag, der heute in Nürnberg startet, wird das Thema Missbrauch laut Tagesordnung nur in vier von über 2.000 Veranstaltungen behandelt. Der Sprecher eines Forschungsteams, das sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht, fordert dagegen im WDR, dass Missbrauch breit diskutiert werden müsse.
Alle Institutionen - auch die evangelische Kirche - müssten sich damit auseinandersetzen, wie sie Kinder und Jugendliche schützen könnten, sagt Martin Wazlawik dem WDR. Der Professor für soziale Arbeit ist Sprecher eines Forschungsteams, das zum ersten Mal deutschlandweit Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in der evangelischen Kirche untersuchen soll. Die Studie wird finanziert von der evangelischen Kirche und soll im Herbst erscheinen.
Gute-Nacht-Küsse vom Pfarrer waren üblich
Auf dem Evangelischen Kirchentag diese Woche in Nürnberg wird Martin Wazlawik auf dem einzigen Podium diskutieren, das sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen wird. Außer dieser Diskussionsrunde wird es nur noch einen Gottesdienst und zwei Selbsthilfe-Treffs für Betroffene geben. Bei insgesamt über 2.000 Veranstaltungen.
Das sei zu wenig, kritisiert Dörte Münch aus Köln. Sie ist selbst Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kirche. Als Jugendliche engagierte sie sich fünf Jahre in der evangelischen Kirche in Norddeutschland. Auf Fahrten, erzählt Münch im WDR-Interview „war es total üblich, Gute-Nacht-Küsse vom Pfarrer zu bekommen." Bei Spielen sei es zu Berührungen gekommen und auf Partys hätten die jungen Mädchen eng umschlungen mit dem Pfarrer tanzen müssen.
"Man wollte nicht hysterisch wirken"
Dabei sei ihr der Pfarrer auch unters T-Shirt gegangen: „Das waren zum Beispiel so Situation, wo ich gemerkt habe, das ist nicht mehr in Ordnung. Und trotzdem gehörte das so in dieses System rein. Und man wollte nicht hysterisch wirken.“ Als die Übergriffe begannen, war Dörte Münch 15 Jahre alt. Und sie war nicht die Einzige. Eine Freundin machte der Pfarrer schon als Jugendliche von sich abhängig, später, schon volljährig, wurde sie von ihm schwanger und hatte eine Abtreibung.
Niemand hat ein Gespräch angeboten
Erst 27 Jahre später traute sich Dörte Münch zu reden und suchte auch Ansprechpartnerinnen in der Kirche. An der Basis habe sie noch gute Erfahrungen gemacht. „Aber um so weiter ich in diese Strukturen und Hierarchien hineingegangen bin, zu sagen da ist Unrecht geschehen, da bin ich im wahrsten Sinne des Wortes erstmal abgeblitzt.“ Es habe niemals ein Verantwortungsträger ein Gespräch angeboten. "Ich habe mich immer wie ein Verwaltungsakt gefühlt."
Auf WDR-Anfrage wollte sich die Evangelische Kirche Deutschland nicht zu den Vorwürfen äußern. Sie verwies auf die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Betroffene. Auch auf die Frage, wie viele Täter die evangelische Kirche selbst zähle, gab es keine Antwort.
Die Strategien der Täter
Dörte Münch ist immer noch in der Kirche engagiert, aber nur, weil in ihrer Kölner Gemeinde eine Arbeitsgruppe gegründet wurde, die Missbrauch aufarbeiten will. Dabei geht es auch um die Strategien der Täter. Ihr Pfarrer damals habe mit den Jugendlichen tolle Fahrten gemacht, ihnen einen Freiraum ohne Eltern geschaffen: "Ich hatte den Eindruck, ich habe zu viel zu verlieren. Und mal da dieser kleine Übergriff, den kann ich vielleicht runterschlucken."
Zum Kirchentag nach Nürnberg will Dörte Münch nicht fahren. Die Kirche tue dort zwar offen und diskussionsfreudig. Aber nur, solange sich alle wohl fühlten. Und das sei beim Thema Missbrauch nun mal nicht der Fall.
"Keiner schlägt sich um dieses Thema"
Und auch ihr heutiger Kölner Pfarrer, Christoph Rollbühler weiß, dass es beim Thema Missbrauch noch viel zu tun gibt: "Keiner schlägt sich um das Thema, es ist wahnsinnig unbequem. Aber es ist notwendig, wirklich notwendig, dass wir uns viel mit dem Thema auseinandersetzen." Denn sonst, das ist Rollbühlers Befürchtung, verliere die Kirche ihre Glaubwürdigkeit.
Studiensprecher Wazlawik sagt, dass Institutionen aller Art und auch die evangelische Kirche eine Zugewandtheit zu den Betroffenen lernen müssten: "Es macht einen Unterschied, wenn ich immer aus meinen Strukturen denke oder wenn ich versuche, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen."