Silvester-Krawalle in Solingen: Jugendliche entschuldigen sich für ihr Nichtstun

Stand: 09.02.2024, 15:33 Uhr

Jugendliche in Solingen haben sich in einem offenen Brief bei der Feuerwehr und der Polizei entschuldigt. Dafür, dass sie bei den Silvester-Krawallen tatenlos zugesehen hätten.

Von Nina Magoley

Mehr als 40 Personen hatten in der Silvesternacht die Einsatzkräfte der Feuerwehr mit Böllern beschossen, Straßenbarrikaden in Brand gesteckt und weitere Feuer entfacht. Tatort: der Solinger Stadtteil Hasseldelle. Ein Viertel, das als sozial schwierig gilt und in den vergangenen Jahren mehrfach in die Schlagzeilen geriet.

In der Hoffnung auf Hinweise zu den Tätern der Silvesternacht hatte die Polizei Anfang Januar drei Tage lang eine mobile Wache an der Hasselstraße aufgestellt. Doch die Aktion habe "nur geringen Zulauf" gehabt, erklärte die Polizei Wuppertal später.

Jugendliche: Haben "wertvolle Arbeit verhindert"

Umso überraschender jetzt die Aktion von Jugendlichen, die sich nach eigenen Angaben regelmäßig im sozialen Jugendzentrum "Wir in der Hasseldelle" treffen - und in der Silvesternacht dabei waren. In einem offenen Brief an die Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr entschuldigen sich die Jugendlichen dafür, bei den Krawallen zugeschaut zu haben, ohne einzugreifen.

Silvester 2023: Aufruhr in Hasseldelle | Bildquelle: dpa / Christoph Reichwein

"Wir möchten uns aufrichtig bei Ihnen für unser unangemessenes Verhalten während der Silvesternacht entschuldigen", schreiben sie. "Es tut uns leid, dass wir untätige Zuschauer waren, während Jugendliche von außerhalb die Rettungskräfte attackierten." Ihr Verhalten sei nicht nur unverantwortlich gewesen, sondern habe auch "den Einsatz Ihrer wertvollen Arbeit behindert". Sie hätten, so schreiben die Jugendlichen, Solidarität mit den Feuerwehrleuten und Polizeikräften zeigen müssen.

Offenbar ist den Jugendlichen klargeworden, dass sich der ohnehin schlechte Ruf ihres Viertels durch die Vorfälle in der Silvesternacht nicht gerade verbessert hat: "Wir hätten wissen müssen, dass das, was passiert ist, auf uns zurückfallen wird und unser Ruf in Mitleidenschaft gezogen wird." Sie schreiben von "unschönen Erfahrungen in der Schule und auf der Suche nach Arbeit oder einem Ausbildungsplatz", wenn als Wohnort die Hasseldelle genannt werde.

Sozialarbeiter: "Ganz langer Rattenschwanz"

Das bestätigt auch Quartiersmanager und Sozialarbeiter Malte Andresen. Er betreut die Jugendlichen im Jugendzentrum "Wir in der Hasseldelle" mit. "Da hängt ein ganz langer Rattenschwanz dran - von der Wohnungssuche bis zur Jobbewerbung" - die Jugendlichen wollten verhindern, dass ihre Siedlung stigmatisiert oder als Brennpunkt betitelt wird.

Nach dem Schock der Silvesternacht habe es im Jugendzentrum Gespräche mit den Jugendlichen gegeben, berichtet Andresen. Resultat sei deren Entschluss gewesen, sich bei Feuerwehr und Polizei zu entschuldigen. Woraufhin die Geschichte noch eine weitere positive Wendung nahm: Bei einem gemeinsamen Treffen, an dem auch Einsatzkräfte aus der Silvesternacht teilnahmen, habe die Feuerwehr den Jugendlichen deutlich gemacht, was passieren kann, wenn Einsatzkräfte bei ihrer Arbeit behindert werden. Einer der Jugendlichem, erzählt Andresen, habe nun Interesse bekundet, zur Freiwilligen Feuerwehr zu gehen.

Vereinsheim bleibt beim nächsten Mal offen

Was aber hätten die Jugendlichen tun können, anstatt zuzuschauen, wie andere randalierten? "Schwierig, allgemein zu sagen", mein Sozialarbeiter Andresen. Der bei dem Treffen anwesende Vertreter der Stadtverwaltung, Jan Welzel, habe darauf hingewiesen, dass es in solch unübersichtlichen Situationen auch wichtig sei, nicht selber in Gefahr zu geraten.

Für das kommende Silvester habe man jedenfalls beschlossen, das Vereinsheim für die Jugendlichen zu öffnen, "damit sie einen Raum haben und es gar nicht erst zu solchen Situationen kommen kann".

Silvesternacht: Angriffe auf Einsatzkräfte Aktuelle Stunde 01.01.2024 UT Verfügbar bis 01.01.2026 WDR Von Cengiz Ünal

1970er-Jahre-Siedlung heute sozialer Brennpunkt

Anfang der 1970er Jahre war am nordöstlichen Rand von Solingen praktisch auf der grünen Wiese die Großwohnsiedlung Hasseldelle entstanden - eine Ansammlung höherer Mietshäuser. Heute leben dort viele Nationalitäten zusammen, die Einkommensverhältnisse der meisten Familien sind niedrig.

Polizeikontrolle in Solingen-Hasseldelle | Bildquelle: WDR/ Gattus

Hasseldelle sei zu Unrecht abgehängt, erklärte die Quartiersmanagerin des Vereins "Wir in der Hasseldelle" im Januar ebenfalls in einem Offenen Brief. In ihrem engagierten Appell beschrieb Marina Winkelmann-Lehnen die desolate soziale Situation im Solinger Stadtteil Hasseldelle: Räumlich abgeschottet von des Stadt herrsche hier "Wut und Frust" über die eigene Benachteiligung: "Keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, vom Schulsystem aussortiert oder keine Arbeitsstelle, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen." Einiges bliebe den hier Heranwachsenden schlichtweg verwehrt, "manchmal schon aufgrund ihrer Adresse".

"Gegen Windmühlen kämpfen"

Das sei keine Entschuldigung, Feuerwehrleute im Einsatz zu attackieren, schrieb Winkelmann-Lehnen, "aber es lohnt sich, genauer hinzusehen woher diese Aggression rührt". Der soziale Verein kämpfe ständig hart darum, Fördergelder etwa für Sportprojekte für Jugendliche, Utensilien für die Hausaufgabenbetreuung oder ein warmes Mittagessen für Schulkinder zu bekommen. Der Verein müsse "gegen Windmühlen kämpfen", denn die Infrastruktur in essenziell wichtigen Bildungseinrichtungen, die Sozial- und Jugendarbeit Solingens, sei so marode geworden, dass ein einzelner Verein dies nicht mehr auffangen könne.

Es wundere sie, schrieb die Sozialarbeiterin knapp zehn Tage nach Silvester, dass "alle so überrascht" über die Ereignisse in der Nacht des Jahreswechsels gewesen seien. Umso stolzer dürfte Marina Winkelmann-Lehnen jetzt auf den Schritt sein, den die von ihr betreuten Jugendlichen gegangen sind. "Wir erkennen unseren Fehler an", so schließen sie in ihrem Brief an die Einsatzkräfte, "und versichern Ihnen, dass wir aus dieser Erfahrung lernen werden". Es liege ihnen am Herzen, sich "aktiv für ein respektvolles und sicheres Zusammenleben in unserer Gemeinschaft einzusetzen". In Zukunft wolle man dazu beitragen, "solche Vorfälle zu verhindern".