Wochenlang als Geisel der Hamas gefangen: Die Folgen für die Kinder

Stand: 27.11.2023, 16:02 Uhr

20 der 54 Geiseln, die die Hamas bislang freigelassen hat, sind Kinder und Jugendliche. Wie können solche traumatischen Erlebnisse verarbeitet werden? Fragen an einen Kinderpsychologen.

Sieben Wochen nach den Terroranschlägen und brutalen Entführungen durch die Hamas sind nun die ersten Geiseln wieder frei und in Sicherheit. Welche langfristigen psychischen Folgen kann ein solches Erlebnis gerade bei Kindern auslösen? Wie kann man therapeutisch helfen? Ein Gespräch mit Ulf Thiemann, Chefarzt für Jugend- und Kinderpsychiatrie an der LVR-Klinik Bonn.

WDR: Viele der von der Hamas frei gelassenen Geiseln sind Jugendliche, Kinder und sogar Kleinkinder, das jüngste ist zwei Jahre alt. Wie werden solche traumatischen Erlebnisse verarbeitet? Gibt es Unterschiede, je nach Alter?

Ulf Thiemann: Ja, die gibt es. In solch traumatisierenden Situationen sind Kinder, aber auch Erwachsene, primär mit dem Überleben beschäftigt. Die Verarbeitung setzt dann ein, wenn die Situation nicht mehr besteht. Im aktuellen Fall also dann, wenn die Rückkehr in einen neu zu ordnenden Alltag erfolgt. Ganz allgemein kann man sagen, dass bei Kindern ein höheres Risiko besteht, dass sie Traumafolgestörungen entwickeln. Dieses Risiko ist umso größer, je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der Traumaeinwirkung waren.

WDR: Es ist also nicht so, dass Zweijährige schlimme Ereignisse leichter verarbeiten, weil sie sie schneller vergessen?

Kinderpsychotherapeut Ulf Thiemann | Bildquelle: Uni Bonn

Thiemann: Nein. Es stimmt zwar, dass die bewusste Erinnerung, die ein zweijähriges Kind an ein solches Ereignis hat, in der späteren Kindheit oder als Erwachsener wahrscheinlich nicht mehr bestehen wird. Die aktive Erinnerung setzt in der Regel erst später ein. Dennoch können aus einem solchen Ereignis auch bei Kleinkindern gravierende Folgen entstehen. Wobei man sagen muss: Nicht jede traumatische Erfahrung entwickelt sich in eine Traumafolgestörung weiter. Aber es ist sehr wichtig, dass man bei Kindern, die so etwas erlebt haben, dranbleibt und diese Möglichkeit immer im Hinterkopf behält.

WDR: Wie sehen diese Traumafolgestörungen aus?

Thiemann: Das können Alpträume sein und Erinnerungen, die einen nicht loslassen. Oder man versucht, Situationen, Orte oder Personen zu meiden, die an das Trauma erinnern. Bei Kindern kann es Rückfälle in Verhaltensweisen geben, die in der Entwicklung eigentlich schon abgeschlossen waren. Etwa, dass sie wieder anfangen, am Daumen zu lutschen, sich nachts einnässen oder dass die Sprache kindlicher wird, als sie schon gewesen ist.

WDR: Welche Auswirkungen haben Dauer und Art des Traumas auf kleine Kinder?

Thiemann: Von wiederholten Traumata wie etwa Misshandlungen durch Bezugspersonen geht ein größeres Risiko einer Folgestörung aus als von einmaligen Ereignissen wie Unfällen. Auch ist das Risiko bei Traumata, die von Menschen verursacht wurden, erheblich größer als etwa bei Naturkatastrophen.

WDR: Gibt es Fälle und Erfahrungen, die Sie gemacht haben, die der aktuellen Situation in Israel ähneln?

Thiemann: Man kann das nicht eins zu eins vergleichen, aber nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal sind Traumafolgen bei Kindern und Jugendlichen oft auch erst mit zeitlicher Verzögerung aufgetreten. Die Kinder und ihre Familien waren zunächst mit ganz essenziellen Fragen beschäftigt, wie man den Alltag zukünftig organisiert. Und bei den Kindern in Israel, die jetzt aus der Geiselhaft entlassen wurden, stehen wahrscheinlich ähnliche Fragen im Vordergrund: Wo werde ich mich aufhalten? Wer kümmert sich um mich? Wie geht mein Leben weiter?

WDR: Wie geht man therapeutisch mit Kindern um, die solch schlimme Erfahrungen gemacht haben?

Thiemann: Ganz allgemein gesagt: Im Gespräch bleiben und Beziehungen anbieten. Bei kleineren Kindern ist eine Gesprächspsychotherapie natürlich noch nicht möglich, da geht es dann um die Rahmenbedingungen: Sicherheit und Verlässlichkeit herstellen, die Entwicklung und den weiteren Weg begleiten. Besonders die Beziehungsstabilität ist sehr wichtig. Wenn eine Beziehung unterbrochen wurde, weil die Bezugsperson zu Schaden gekommen oder womöglich gar nicht mehr am Leben ist, geht es als erstes darum, das weitere Leben zu organisieren. Man sollte sicherzustellen, dass es nicht andauernde Wechsel gibt, sondern dass in einer Situation der Sicherheit und Verlässlichkeit Beziehungen neu entstehen können.

Das Interview führte Ingo Neumayer.