Wolfsgruß-Affäre und Reaktion Erdoğan
Aktuelle Stunde . 04.07.2024. 43:25 Min.. Verfügbar bis 31.12.2024. WDR. Von Julius Hilfenhaus.
"Wolfsgruß" bei EM sorgt für diplomatisches Nachspiel
Stand: 04.07.2024, 12:22 Uhr
Rechtsextreme Provokation oder Naivität? Türkei-Spieler Merih Demiral hat bei der EM den "Wolfsgruß" gezeigt. Was dahintersteckt und welche Folgen das nun hat.
Die Freude der türkischen Mannschaft nach dem Sieg über Österreich im EM-Achtelfinale am Dienstag war groß. Doch nach dem Abpfiff gab es auch Missstimmungen: Der türkische Abwehrspieler Merih Demiral feierte seinen zweiten Treffer mit einer nationalistischen Geste, die als rechtsextrem gilt. Dafür wurde er scharf kritisiert, auch von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).
Der türkische Präsident Erdoğan will am Samstag zum Viertelfinale nach Berlin kommen.
Das hat ein Nachspiel. Die türkische Regierung bestellte den deutschen Botschafter in Ankara ein, um über den Fall zu sprechen. Im Gegenzug bestellte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter in Berlin ein - das Treffen fand am Donnerstag statt. Mittlerweile kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an, am Samstag nach Berlin zu kommen, um seiner Mannschaft im Viertelfinale gegen die Niederlande den Rücken zu stärken.
Wird Demiral dann auf dem Platz stehen? Sicher ist das noch nicht. Denn die Europäische Fußball-Union UEFA hat ein Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet.
Was steckt hinter dem "Wolfsgruß"? Wäre eine Strafe der UEFA gegen Demiral angemessen? Tuncay Özdamar, Leiter der türkischen Redaktion des WDR, gibt Antworten.
WDR: Nach dem Spiel gab es viel Aufregung, weil der türkische Spieler Merih Demiral den "Wolfsgruß" zeigte. Was hat es damit auf sich?
Tuncay Özdamar: Der "Wolfsgruß" ist ein Zeichen der nationalistischen "Ülkücü"-Bewegung und beruht auf einem historischen Mythos: Es soll vor langer Zeit in Mittelasien einen grauen Wolf gegeben haben, der den von Feinden bedrängten Türken den richtigen Weg zu einem sicheren Ort gezeigt haben soll. Heute ist der Wolf das größte Symbol der rechten und rechtsextremen Türken.
WDR: Demiral hat gesagt, der Gruß sei keine versteckte rechtsextreme Botschaft gewesen: "Wie ich gefeiert habe, hat etwas mit meiner türkischen Identität zu tun." Ist das glaubhaft?
Tuncay Özdamar: "Wolfsgruß spaltet die Community"
Özdamar: Das kann schon sein. Nicht jeder, der den "Wolfsgruß" zeigt, ist unbedingt ein Nationalist, da sind auch viele Mitläufer dabei. In der Türkei gibt es eine gewisse Verharmlosung bei dem Thema, auch Staatspräsident Erdogan hat den Gruß vor ein paar Jahren einmal gezeigt. Im Grunde will man damit symbolisieren: Die Türken sind den anderen Nationen überlegen - was natürlich völliger Quatsch ist und auf einen Fußballplatz nichts zu suchen hat.
Was Demiral gemacht hat, war sehr, sehr naiv, und ich denke, er weiß genau, was dieses Zeichen bedeutet. Der "Wolfsgruß" spaltet die türkische Community, die Fans und vielleicht auch das Team. Möglicherweise gibt es auch in der Mannschaft Spieler, die dieses Zeichen nicht gerne sehen wollen.
WDR: Welche Rolle spielen die Grauen Wölfe und die "Ülkücü"-Bewegung in der türkischen Community in Deutschland?
Özdamar: Die Grauen Wölfe werden vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet, weil sie sich hier an Angriffen auf Oppositionelle, auf Kurden und auf Aleviten beteiligt haben. Die meisten Türken in Deutschland haben mit den Grauen Wölfen nichts zu tun, das ist eine kleine Minderheit.
WDR: Auch Mesut Özil hat ein Tattoo mit Bezug zu den Grauen Wölfen. Gibt es eine besondere Verbindung zwischen der Bewegung und dem Fußball?
Mesut Özil: Nähe zu Nationalisten?
Özdamar: Das glaube ich nicht. Das war früher vielleicht mal der Fall, aber das hat abgenommen - zumindest im Vereinsfußball. Viele türkische Vereine achten darauf, dass die Politik nicht zuviel Einfluss auf den Sport nimmt. Allerdings ist das manchmal schwer zu verhindern.
WDR: Die UEFA hat eine Untersuchung gegen Demiral eingeleitet, weil politische Symbole nicht erlaubt sind bei der EM, eventuell droht ihm eine Sperre im Viertelfinale. Wäre diese Strafe angemessen?
Özdamar: Wenn die UEFA ihn sperren würde, würde das enorm empörte Reaktionen in der Türkei auslösen. Dann hieße es wieder: 'Seht Ihr, der europäische Westen will uns nicht dabei haben!' Und wenn die Türkei dann ohne ihn gegen die Niederlande verlieren würde, hätten wir eine handfeste Krise. Selbst liberal eingestellte Menschen, die der Mitte zuzuordnen sind, würden sich dann vielleicht hinter Demiral stellen.
WDR: Was sollte die UEFA also tun?
Özdamar: Sie sollte Demiral zur Rede stellen und ihn verwarnen. Eine Suspendierung wäre aber zu viel, finde ich.
Das Interview führte Ingo Neumayer.