Hunderte Polizisten und Bundeswehrsoldaten suchen zurzeit nach dem vermissten Arian in Niedersachsen. Besonders problematisch dabei: Der Sechsjährige ist Autist - das heißt, es kann sein, dass er die Suchenden und ihre Rufe durchaus hört, aufgrund seines Wesens aber nicht darauf reagiert.
Im Internet gibt es zahlreiche umfangreiche Blogs von Menschen mit Autismus - oder ihren Eltern. So den lesenswerten Blog "Wochenenrebell", in dem der 2005 geborene Jason von Juterczenka und sein Vater schreiben - und andere Betroffene schreiben lassen. "Wochenenrebell" erhielt bereits den Grimme-Preis, Vater und Sohn schrieben zwei Bücher zum Thema, ihre Geschichte wurde verfilmt.
In "Ellas Blog" hat Silke Bauerfeind, Mutter eines autistischen Kindes, viel Wissenswertes über Autismus, hilfreiche Fakten und Erfahrungsberichte zusammengetragen. In beiden Blogs sind auch viele andere Online-Auftritte von erwachsenen Autisten verlinkt.
Was bedeutet Autismus?
Autismus gilt in der Wissenschaft als Entwicklungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit beginnt. Sie äußert sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Wissenschaftler unterscheiden zwischen drei Varianten, deren Symptome sich aber überschneiden können: dem frühkindlichen Autismus, dem atypischen Autismus und dem Asperger-Syndrom.
Dabei geht man davon aus, dass autistische Menschen eine veränderte Wahrnehmung haben: Informationen und Reize werden vom Gehirn anders aufgenommen und verarbeitet. Dadurch entsteht ein besonderes Verhalten, eine spezielle Weise der Kommunikation und des Umgangs mit Emotionen.
Bei manchen Autisten ist die Ausprägung so stark, dass sie in der Kommunikation mit anderen Menschen sehr eingeschränkt sind oder sich auffällig verhalten. Bei anderen beschränken sich die Auffälligkeiten auf Bereiche, die ein selbstständiges Leben dennoch ermöglichen. Manche Symptome zeigen sich auch erst im Laufe des Erwachsenwerdens.
Betroffen sind mehr Jungen als Mädchen, etwa die Hälfte der Betroffenen seien normal intelligent. Eine sichere Diagnose kann nur ein Arzt oder Psychiater stellen.
Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind autistisch ist?
Für viele Eltern autistischer Kinder ist diese Erkenntnis ein langer Weg. In "Ellas Blog - Leben mit Autismus" trägt Silke Bauerfeind Erfahrungsberichte betroffener Eltern zusammen. Demnach verhalten sich manche Kinder schon als Babys auffällig: Schreien sehr viel, schlafen schlecht, essen wenig, nehmen kaum Blickkontakt mit anderen Menschen auf oder bewegen sich nur sehr wenig.
Andere Eltern beschreiben, dass ihnen erst in den ersten Lebensjahren besondere Verhaltensweisen auffielen: Dass ihr Kind nicht krabbeln oder laufen wollte, nur verzögert sprechen lernte, im Kindergarten keinen Kontakt zu anderen Kindern aufnahm, einen ausgeprägten Sortier- und Ordnungsdrang entwickelte, Worte stereotyp wiederholte oder zu unerklärlichen Wutanfällen, zu Schreien, Treten oder Kratzen neigte.
Was bedeutet es, ein autistisches Kind zu haben?
Eltern kann der Umgang mit einem autistischen Kind vor enorme Herausforderungen stellen. Oft stehe man hilflos vor dem eigenen Kind und wisse nicht, "was gerade passiert und was der Auslöser für das Verhalten ist", schreibt Silke Bauerfeind in ihrem Blog. "Viel Wissen, Geduld und Durchhaltevermögen" seien notwendig, um "nach und nach für ein Umfeld zu sorgen, in dem es ohne diese Ausbrüche geht und die Lebensqualität aller Beteiligten verbessert wird".
Ein wichtiger Satz aus dem Blog: "Manchen Eltern, vor allem denjenigen, die noch ganz neu mit dem Thema Autismus zu tun haben, wurde womöglich auch noch nicht erklärt, dass dieses Verhalten selten mit Provokation, sondern meistens mit Reizüberflutung, Überforderung, Frust oder Schmerzen zu tun hat."
"Dass autistische und nicht-autistische Menschen sich nicht einfach so verstehen, ist ganz normal", schreibt Autistin "Hobbithexe" im Blog Wochenendrebell. Die Welt sei nicht-autistisch und passe deshalb nicht sonderlich gut zum Kind. Eltern mit autistischem Kind rät sie: "Lest euch viel Wissen über Autismus an, vor allem von Autistinnen und Autisten selbst." Eltern sollten sich immer vor Augen halten, dass sich ihr Kind nicht aus bösem Willen so verhalte, wie es sich verhalte. "Sein Verhalten hat immer eine Ursache. Arbeitet nicht am Verhalten, sondern an dieser Ursache."
Ist ein autistisches Kind aus unerklärlichen Gründen "völlig außer Rand und Band", dann sollten Eltern sich fragen, was es sein könnte, das es so überfordert hat. "Vielleicht fallen euch Regelmäßigkeiten auf." Zum Beispiel, wenn die Ausbrüche immer nach einem Spielplatzbesuch kommen. "Vielleicht ist dort zu viel los." Dann könne man versuchen, hinzugehen, wenn keine anderen Kinder da sind.
Haben Autisten keine Emotionen?
Oft heißt es auch, Autisten seien nicht fähig zu Mitgefühl. Experten widersprechen: Vielmehr falle es Autisten oft schwer, eine Situation, eine Reaktion oder einen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers richtig zu deuten. Dabei könne ihnen auch entgehen, dass jemand traurig ist und Zuwendung braucht, schreibt Silke Bauerfeind. "Aber wenn man ihnen erklärt, dass und warum jemand traurig ist, dann können sie sich auch einfühlen.“
Neuere Untersuchungen zeigten, dass bei Autisten die für Empathie zuständige Aktivität in der rechten Gehirnhälfte im Vergleich zu Nicht-Autisten signifikant vermindert war.
Im Blog "Wochenendrebell" finden sich viele Ratschläge von autistischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Ist Autismus behandelbar?
Die medizinische Wissenschaft verneint das. Lediglich Begleiterscheinungen - wie Angstzustände, Depression oder starke Aggression - könnten mit Medikamenten reduziert werden. Musik- oder Kunsttherapie könne sich positiv auf die Stimmung auswirken und zu mehr Ausgeglichenheit führen.
Leben Autisten "in einer anderen Welt"?
Eben nicht, sagen viele Autisten über sich selbst. Oft wirken Autisten so, als seien sie in eine eigenen Welt zurückgezogen - reagieren zum Beispiel nicht auf Ansprache. Ihr Gehirn muss im täglichen Leben viel mehr Reize verarbeiten, miteinander verknüpfen und sortieren als das eines nichtautistischen Menschen.
Für Schulkinder beispielsweise ist das tägliche Geschehen im Klassenzimmer eine maximale Herausforderung. Viele ziehen sich, sobald sie zuhause sind, in eine Art inneren Ruheraum zurück. In "Ellas Blog" beschreibt es Autistin Sonja so: "Wann ich ausfiltere und wann ich mich zurückziehe und mich auf etwas konzentriere, liegt aber nicht in meiner Entscheidung, das passiert einfach, wenn mein Körper überlastet ist.“
Wie begegnet man einem autistischen Menschen?
Viele gute Hinweise dazu finden sich in den Blogeinträgen Betroffener. Aus den zuvor zitierten Beispielen wird klar, dass es davon abhängig ist, wie sehr sich ein autistischer Mensch mit seiner Situation reflektiert auseinandersetzen kann, wie gut die eigenen Defizite im Umgang mit anderen durch Übung kompensiert wurden.
"Einige autistische Personen hören (= verstehen) tatsächlich besser, wenn man sie nicht anschaut", schreibt Autist Markus auf seiner Homepage "Autismus-Spektrum". "Für einige kann es sein, dass sie, wenn sie direkt angeschaut werden, dies als 'Berührung' empfinden." Was Nicht-Autisten für angenehm oder schön halten - zum Beispiel ein Feuerwerk - könne für ein autistisches Kind ängstigend oder überlastend sein.
Autistische Menschen seien sehr anfällig für sensorische Überlastung, schreibt "Markus". Situationen, die andere Menschen als normal empfinden, können für sie eine Überlastung bedeuten. Das gelte es zu vermeiden. Bemerkt man, dass ein autistischer Mensch an die Grenzen seiner Belastbarkeit kommt, sollte man demjenigen Zeit und Raum geben, sich zu erholen: "Laden Sie den Autisten an einen ruhigen Ort oder ins Freie ein."
Gegenüber Kindern sei es wichtig, ihnen beizubringen, wie sie die inneren Anzeichen der Überlastung selber erkennen und um Hilfe bitten können. Andere Erwachsene sollten sich mit den Eltern absprechen, "damit man die selben Strategien benutzt".
Unsere Quellen:
- "Ellas Blog"
- Blog "Wochenendhelden"
- Homepage "Autismus-Spektrum"