AKW Saporischschja: Müssen wir uns vor einem Atomunfall schützen?

Stand: 07.10.2022, 16:24 Uhr

Die Gefahr eines Unfalls im AKW Saporischschja sei sehr real, warnt die Internationale Atomenergiebehörde. Wie stark wäre Deutschland betroffen? Und welche Vorkehrungen gibt es?

Von Andreas Poulakos, Jörn Seidel

Die Warnungen vor nuklearen Katastrophen durch Russlands Krieg in der Ukraine nehmen zu. Abseits der Diskussion über einen möglichen Atomkrieg richtet sich die Sorge vor allem auf Europas größtes Atomkraftwerk, Saporischschja. Dort sei ein atomarer Unfall "eine sehr, sehr klare Möglichkeit", sagte nun der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi. Auch für Deutschland könnte das Folgen haben.

Welche genau? Wie stark würde ein atomarer Unfall im AKW Saporischschja die Bundesrepublik treffen? Welche Vorkehrungen empfiehlt das Bundesamt für Strahlenschutz den Menschen hierzulande? Wie steht es um Jod-Tabletten? Und ist auch ein Super-GAU wie damals in Tschernobyl möglich? Fragen und Antworten.

Wie stark wäre Deutschland durch einen Atomunfall in der Ukraine gefährdet?

Laut einer aktuellen Analyse des Bundesamts für Strahlenschutz wären die Auswirkungen auf Deutschland in einem solchen Fall eher gering. Das liegt vor allem an der relativ großen Entfernung - rund 1.500 Kilometer liegen zwischen dem AKW Saporischschja und der deutsche Grenze.

Auch die meteorologischen Daten sprechen eher gegen eine akute Gefährdung Deutschlands: Die Wahrscheinlichkeit, dass radioaktive Stoffe mit dem Wind nach Westen getragen werden, liegt laut der Bundesbehörde nur bei 17 Prozent, weil in der Region meistens Westwind herrscht.

Wie sollte man sich in Deutschland bei einem solchen Atomunfall verhalten?

"Spezielle Verhaltenshinweise oder Empfehlungen für die Bevölkerung sind im Hinblick auf radiologische Risiken derzeit nicht notwendig", erklärte ein Sprecher Bundesamts für Strahlenschutz. Auch dann, wenn im AKW Saporischschja tatsächlich ein atomarer Unfall eintreten sollte, ist nach Berechnungen der Behörde "nicht zu erwarten, dass weitergehende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung notwendig wären".

Die Notfallmaßnahmen würden sich "voraussichtlich auf die Landwirtschaft und die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte beschränken", so das Bundesamt. Was das konkret bedeuten würde, erklärt Strahlenbiologe Wolfgang-Ulrich Müller dem WDR:

  • Weidetiere würden in Ställe gebracht werden.
  • Öffnungen von Gewächshäusern wurden geschlossen werden.
  • Es würden Verzehrverbote ausgesprochen werden.
Professor Wolfgang-Ulrich Müller, Strahlenbiologe | Bildquelle: WDR / Prof. Dr. Wolfgang-Ulrich Müller

Müller ist Professor im Ruhestand, war früher an der Uniklinik Essen tätig und ist jetzt Mitglied des Krisenstabs der Strahlenschutzkommission. "Eine der wichtigsten Maßnahmen ist", so Müller, "zu Hause zu bleiben, bis die nukleare Wolke weitergezogen ist." Außerdem solle man die aktuellen Empfehlungen der Behörden zu beachten. In betroffenen Gebieten würden dann auch Jod-Tabletten verteilt.

Allgemeine Hinweise zum CBRN-Schutz, also bei chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gefahren, gibt auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe:

Ist es sinnvoll, einen Vorrat an Jod-Tabletten anzulegen?

Von einer selbstständigen Einnahme von Jod-Tabletten rät das Bundesamt für Strahlenschutz ab.

"Eine Selbstmedikation mit hochdosierten Jodtabletten birgt gesundheitliche Risiken insbesondere für ältere Personen, hat aktuell aber keinen Nutzen." Bundesamt für Strahlenschutz

Außerdem seien Jod-Tabletten aus der Apotheke viel zu gering dosiert, so Strahlenbiologe Müller. "Die würden überhaupt nichts bringen."

In den deutschen Bundesländern sind nach Angaben des Bundesamt für Strahlenschutz insgesamt 189,5 Millionen Jodtabletten bevorratet, "die bei einem Ereignis, bei dem ein Eintrag von radioaktivem Jod in die Luft zu erwarten ist, in den möglicherweise betroffenen Gebieten durch die Katastrophenschutzbehörden verteilt werden". Die Verteilwege seien genau vorbereitet, so Müller. Auch deshalb ist er bezüglich der Gefahr durch einen Atomunfall der Ansicht:

"Das, was man tun kann, wurde vonseiten der Bundesrepublik getan." Wolfgang-Ulrich Müller, Strahlenbiologe

Was wäre der Unterschied zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986?

Tschernobyl steht für einen der größten Unfälle in der Geschichte der Atomenergie: Am 26. April 1986 kam es in dem ukrainischen Atomkraftwerk zu einer vollständigen Kernschmelze. Durch die daraus folgenden Explosionen wurde radioaktives Material in die Luft gestoßen. Mit dem Wind verteilten sich die strahlenden Partikel aus Tschernobyl über ganz Europa. Ein großer Teil gelangte wegen nordwestlicher Winde nach Skandinavien. Aber auch Deutschland war betroffen: Vor allem Bayern und der Südosten Baden-Württembergs, weil es dort Anfang Mai 1986 besonders heftig regnete.

Bei einem Unfall in einem heutigen ukrainischen AKW würde höchstwahrscheinlich weniger radioaktives Material in die Umwelt gelangen, sagte Wissenschaftsjournalist Reinhart Brüning dem WDR am Freitag. Grund: In Tschernobyl arbeitete ein Druckröhrenreaktor der sowjetischen RBMK-Bauart. Bei diesem Reaktortyp sind die Brennelemente in Druckröhren innerhalb eines Graphitblocks angeordnet und werden von Wasser gekühlt. Weil Graphit unter bestimmten Umständen brennbar ist, gelangten durch den Kamineffekt besonders große Mengen radioaktives Material in die Atmosphäre. "Bei den modernen AKW wäre der Ausstoß viel geringer", so Brüning.

Ein weiterer Unterschied, so Strahlenbiologe Müller: Damals gab es noch nicht das IMIS-System. Bei diesem wird ständig die Radioaktivität überwacht. Radioaktive Wolken würden sofort erkannt, so Müller, und man könne frühzeitig reagieren. Die Daten sind über die Website des Bundesamtes für Strahlenschutz für jeden einzusehen.