Der 15. April 2023 war ein historischer Tag: Die Atomkraftwerke Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland gingen vom Netz. Obwohl der Ausstieg lange beschlossen war, wurde bis zuletzt darüber gestritten. Hätte der Ausstieg nicht im Sinne einer energiepolitischen Unabhängigkeit Deutschlands verschoben werden sollen? Und was ist mit dem Klima – warum nutzen wir die Kohle noch und die Atomkraft nicht mehr? Fragen und Antworten.
Auf dieser Seite:
- Was passiert am Samstag genau?
- Ist es eine dumme Idee, jetzt auszusteigen?
- Welche Auswirkung hat die Abschaltung auf die Energiepreise?
- Welche Auswirkungen hat die Abschaltung auf die Energieversorgung?
- Wie sieht der Strom-Mix in NRW aus?
- Welche Auswirkung hat die Abschaltung auf die Atomwirtschaft in NRW?
- Hat die Abschaltung Auswirkung auf die Kernkraft-Forschung?
- Welche europäischen Nachbarn setzen weiterhin auf Atomkraft?
- Wie endgültig ist der endgültige Ausstieg eigentlich?
Was passierte am Samstag genau?
Im Laufe des Samstags wurden die drei letzten Kernkraftwerke in Deutschland – Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg – endgültig vom Netz getrennt. Dafür drückten die Betreiber beispielsweise bei Isar 2 in Landshut auf einen kleinen roten Knopf. Der Abschaltvorgang funktioniere wie bei den regelmäßigen Überprüfungen, erläuterte im Vorfeld Carsten Müller, Kraftwerksleiter von Isar 2. Nach der Trennung vom Stromnetz wurde der Reaktor dann heruntergefahren. "Das dauert etwa eine Viertelstunde", so Müller.
Danach beginnt die eigentliche Arbeit: Die hoch radioaktiven Brennelemente werden entfernt und für einige Jahre in ein Abklingbecken gebracht. Anschließend werden sie in sogenannten Castorbehältern in Zwischenlagern aufbewahrt. In Deutschland gibt es aktuell 16 Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle.
Ist es eine dumme Idee, jetzt auszusteigen?
Darüber gibt es geteilte Meinungen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält das Aus für die deutschen AKWs für richtig. "Es ist kein Fehler, in der aktuellen Situation die Atomkraftwerke abzuschalten", erklärt Kemfert. Eine Verlängerung wäre "sehr risikoreich und auch sehr teuer". Die letzten drei Atomkraftwerke würden nicht gebraucht. "Wir hätten sie auch schon Anfang des Jahres abschalten können, ohne dass in Deutschland die Lichter ausgehen", sagt Kemfert.
Nach Angaben des Umweltbundesamts (UBA) ist Strom aus Atomkraftwerken zudem nicht CO2-neutral. Denn bei der Errichtung der Kraftwerke, dem Transport des radioaktiven Materials und dem Betrieb von Zwischen- und Endlagern entstehen CO2-Emissionen. Dem UBA zufolge ist Atomstrom mit Blick auf die Emissionen zwar besser fürs Klima als fossile Energieträger wie Kohle oder Gas, doch immer noch deutlich schädlicher als erneuerbare Energien.
André Thess vom Institut für Energiespeicherung (IES) an der Universität Stuttgart gibt allerdings zu bedenken: "Mit einem einzigen Kernkraftwerk sparen Sie pro Jahr ungefähr 10 Millionen Tonnen CO2. Das ist der Ausstoß von einer Million Einwohner der Bundesrepublik Deutschland." Die sechs Kraftwerke, die Anfang 2022 noch in Betrieb waren, hätten länger am Netz bleiben sollen, meint auch Thomas Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie. Man hätte damals sagen sollen: "Wir machen diese periodischen Sicherheitsüberprüfungen, wir schauen darauf, dass die sicher betrieben werden können, wir bestellen Brennelemente und dann gucken wir, dass wir mal für ein paar Jahre hier ein bisschen Luft reinkriegen."
Welche Auswirkung hat die Abschaltung auf die Energiepreise?
Auch hier gilt: Man wird sehen. "Was die Preiswürdigkeit, die Bezahlbarkeit angelangt, so mussten wir in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass die Energiepreise steigen", erklärt André Thess vom Institut für Energiespeicherung. Und ab Samstag sei nun die Möglichkeit vom Tisch, diese Steigerung durch preiswerte Kernenergie zu dämpfen. Eine zuverlässige, preiswerte und CO2-neutrale Energieversorgung lasse sich nur durch eine Kombination aus Sonne, Wind und Kernenergie realisieren. "Sonne und Wind allein – auch mit Speichern – sind von ihrer Kostenstruktur heute leider nicht so weit, dass sie das schaffen könnten."
"Der Strompreis wird natürlich günstiger werden, je mehr Erneuerbare wir haben", erklärt hingegen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne). "Wind und Sonne, die kriegen wir immer zum Nulltarif". Atomkraft dagegen sei "teuer, sowohl in der Herstellung, in der Produktion, als auch danach." Schließlich sei die Frage der Endlagerung ungeklärt.
Teile der deutschen Wirtschaft hätten es gern gesehen, wenn die Atomkraftwerke zumindest bis zum Ende der Energiekrise weitergelaufen wären. Denn trotz gesunkener Gaspreise blieben die Energiekosten für die meisten Betriebe in Deutschland zu hoch, erklärte DIHK-Präsident Peter Adrian.
Welche Auswirkungen hat die Abschaltung auf die Energieversorgung?
Im ersten Quartal 2023 lag der Anteil der Kernenergie an der Netto-Stromerzeugung in Deutschland bei 4,5 Prozent. 51,5 Prozent kamen aus Erneuerbaren Energien, 44 Prozent aus fossilen Energieträgern. "Wir haben dieses Jahr mehr Energie ins Ausland exportiert, als die Atomkraftwerke erzeugt haben", erklärt der Elektrotechnik-Professor Dirk Uwe Sauer von der RWTH Aachen. Die Leistung der nun wegfallenden AKW könne durch bestehende Gas- und Kohlekraftwerke problemlos aufgefangen werden. "Wir haben kein Problem mit Blackouts oder mit Unterversorgung."
Auch dass Deutschland nun auf Kohleverstromung angewiesen ist, sei ein zeitlich begrenztes Problem, so Sauer. "Aber man muss eben auch den Übergang schaffen. Wir steigern derzeit den Anteil der Erneuerbaren Energien um drei bis vier Prozentpunkte pro Jahr."
Wie sieht der Strom-Mix in NRW aus?
Kohle war im vergangenen Jahr der wichtigste Energieträger für die Stromerzeugung in NRW. Während in ganz Deutschland rund ein Drittel des in Deutschland erzeugten und ins Netz eingespeisten Stroms aus Stein- und Braunkohle kam, waren es in NRW sogar 60 Prozent. Kernenergie spielt in NRW schon jetzt keine Rolle.
Welche Auswirkung hat die Abschaltung auf die Atomwirtschaft in NRW?
Keine – jedenfalls unmittelbar. Denn in NRW gibt es schon lange kein aktives AKW mehr. In Kalkar am Niederrhein wurde zwar in den 1980er Jahren ein Kernkraftwerk errichtet, der sogenannte "Schnelle Brüter" ging aber nie ans Netz. Seit 1991 befindet sich auf dem Gelände ein Freizeitpark mit Kettenkarussell im Kühlturm.
Der Forschungsreaktor in Jülich ging zwar 1962 ans Netz, wurde aber 2006 nach 44-jähriger Betriebszeit wieder abgeschaltet. Seit 2012 wird die Reaktoranlage zurückgebaut.
Auf die Uran-Anreicherungsanlage in Gronau hat das Aus der deutschen AKW ebenfalls kaum Auswirkungen. Dort wird zwar Uran so aufbereitet, dass es für die Stromproduktion in einem AKW genutzt werden kann. Das angereicherte Uran wird von dort aber weltweit exportiert, die Anlage so auch nach dem deutschen Ausstieg weiter genutzt.
Auch das Zwischenlager für Atommüll in Ahaus wird weiterhin benötigt. Dort werden unter anderem abgebrannte Brennstäbe aufbewahrt, bis es in Deutschland ein offizielles Endlager gibt.
Hat die Abschaltung Auswirkung auf die Kernkraft-Forschung?
Gegner des Atomausstiegs befürchten, dass Deutschland sich ganz von der Nuklearforschung verabschieden wird. "Wir schneiden damit einen ganzen Forschungszweig ab und wissen gar nicht, was in zehn, zwanzig Jahren noch alles kommen kann", warnte Eon-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley kürzlich im "Handelsblatt". Deutschland ist jedoch über die EU noch am Fusionsreaktor "ITER" (International Thermonuclear Experimental Reactor) beteiligt. Auch einige Start-ups beschäftigen sich mit der Kernfusion.
Allerdings stellte die "taz" schon 1995 fest: "In Deutschland gibt es inzwischen mehr Atomkraftwerke als StudienanfängerInnen für Reaktortechnik." An vielen Hochschulen wurden und werden Lehrstühle der Reaktortechnik beim Ausscheiden eines Professors umgewandelt. Schon damals entstanden stattdessen neue Studiengänge wie "Alternative Energien". Zumindest diese Forschung wird in Deutschland so schnell nicht aussterben - und das könnte sich als Standortvorteil erweisen.
Welche europäischen Nachbarn setzen weiterhin auf Atomkraft?
Nach dem deutschen Ausstieg setzen derzeit 12 von 27 EU-Ländern auf Atomkraft – noch. Denn während Deutschland seine AKWs nun vom Netz genommen hat, wollen andere Staaten die Laufzeiten ihrer Meiler verlängern oder sogar neue Reaktoren bauen. Frankreich etwa, mit 56 AKWs bereits weltgrößter Atomstromproduzent nach den USA, prüft derzeit den Bau von 14 neuen Anlagen.
Polen plant sogar, ganz neu in die Kernkraft einzusteigen. Sechs neue Atomkraftwerke sollen dort künftig vor allem den Kohlestrom ersetzen. Und auch die Niederlande möchten bis 2035 zwei neue Atomkraftwerke in Betrieb nehmen. Neue Atomkraftwerke werden derzeit auch in Großbritannien, Ungarn oder auch der Slowakei errichtet. Andere Länder wie Schweden und Belgien planen hingegen, einige alte Meiler deutlich länger als geplant am Netz zu lassen. So sollen die belgischen Kraftwerke Doel 4 und Tihange 3 nun bis 2035 weiterlaufen.
Wie endgültig ist der endgültige Ausstieg eigentlich?
Obwohl der Ausstieg schon lange politisch beschlossen ist, geht die Diskussion weiter. Dass CDU/CSU und auch die FDP aber eine Verlängerung der Laufzeiten fordern, hält der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke für politisches Kalkül. "Ich glaube nicht, dass da etwas revidierbar ist", meint Lucke. Aber die FDP könne für den Fall, dass Energie knapp werden sollte, immer sagen: "Wir haben ja gewarnt." Das spiele dann den Grünen den Schwarzen Peter zu und sei "taktisch ziemlich durchschaubar", so der Politikwissenschaftler.
Technisch halten Experten wie Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit einen Ausstieg aus dem Ausstieg für grundsätzlich machbar. Praktisch aber dürfte es beispielsweise schwierig werden, einmal verbrauchte Atombrennstäbe schnell zu ersetzen. Und sind die Maßnahmen zum Rückbau eines Kraftwerks zu weit fortgeschritten, stellen sich auch Sicherheitsfragen wieder neu.