Eine Frau lässt ihre Hüllen fallen: kein klassischer Akt, keine akademischen Studien. Stattdessen ist das unmittelbar Erlebte, die Berührung des weiblichen Körpers auf der Leinwand zu spüren.
Doris Große war Kirchners Muse in Dresden.
Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1930) hat das Bild 1911 gemalt. Es zeigt seine Muse Dodo, eine Dresdner Modistin, deren Metier die Kreation von Hüten war. Ihr Gesicht ist von einem wagenradgroßen Hut verschattet, der die Nacktheit der Brüste noch stärker zur Geltung bringt: aufreizende Erotik in Zeiten rigider Moralvorstellungen.
Ernst Ludwig Kirchner, Mitbegründer der Künstlergruppe "Die Brücke" und Expressionist, hat alles, was er sah und erlebte, in Kunst übersetzt. Er zeichne, wie andere Menschen schreiben, hat er einmal über sich selbst gesagt.
"Fränzi in der Wiesen"
Auf der Rückseite des "Weibliches Halbaktes mit Hut" findet sich ein weiteres Gemälde, das erst 2012 bei Restaurierungsarbeiten entdeckt wurde. Ernst Ludwig Kirchner hat die Leinwand aus Kostengründen doppelt genutzt, für Dodos sinnlichen Körper ein früheres Motiv verworfen.
"Fränzi in der Wiesen" entstand 1910 im sächsischen Moritzburg. Zu sehen ist die elfjährige Lina Franziska Fehrmann an einem Sommertag auf einer Wiese. Sie kehrt drei nackten Badenden den Rücken, die im Hintergrund die Wiese kreuzen. Fränzi war das Lolitamodell der "Brücke"-Künstler. "Wir stürzten uns auf die Natur in den Mädchen", notierte Kirchner in seinem Tagebuch. Wie seine Freunde malte er im Rausch der Gefühle und Triebe, brach Tabus und provozierte das Spießertum der Kaiserzeit – in freier Natur und im Atelier.
Autorin: Martina Müller