Ein Tanz auf offener Bühne, ein flotter Dreier vor illusionistisch abstraktem Hintergrund: zwei leicht bekleidete Damen und im Zentrum ein melancholisch verträumter Jüngling, „Der verlorene Sohn“. Die Szenerie ist in leuchtendem Gelb gehalten. Eine zwiespältige Farbe, die für Sonne, Licht und Lebensfreude steht. Aber auch ein Symbol für Neid, Diskriminierung, Schande. Die rhythmisch strukturierte Bewegung des Bildes erstarrt hinter einem milchigen Schleier. Es ist ein schwungvoller Auftritt, und doch scheint das Amüsement gebremst.
Lust und Frustration im Bordell
Der Titel des Gemäldes verweist auf eine Erzählung in der Bibel. Aber in seiner Sinnlichkeit zielt es über moralische Verwerflichkeit hinaus. Lust und Frustration im Bordell. Wird der Träger des Unterrocks gerade noch festgehalten oder soll er mit Absicht von der Schulter gleiten? Freizügigkeit und nackte Haut. Der Körper bis über die Hüften entblößt. Das Gewand so gerafft, dass nichts verborgen bleibt. Die Farben sind mit dem Borstenpinsel zerkratzt, die Konturen verwischt. Das Rouge der Damen wirkt wie eine flüchtige Tätowierung.
Den verlorenen Sohn bei den Dirnen malt der fast 70-jährige Christian Rohlfs (1849-1938) während des Ersten Weltkriegs. Alt und behindert, nimmt er die Katastrophe aus der Distanz wahr, sucht weiter seinen Weg in schmerzlich leuchtenden Farben, in Nachtstimmungen. „Ich bin mit dem Naturalismus zu Ende und stilisiere, dass sich die Balken biegen. Deshalb will ich von der Natur auch gar keine Bilder malen, sondern mir bloß Material verschaffen.“
1901 hatte der Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus den damals 52-jährigen Maler überzeugt, von Weimar nach Hagen zu übersiedeln und im Museum Folkwang Quartier zu beziehen. Hier, in einem Haus der Kunst, in einer Heimstatt der europäischen Avantgarde, lebt und arbeitet Christian Rohlfs fortan. Eine einzigartige Situation. 1938 stirbt der Künstler - im Lehnstuhl seines Hagener Ateliers.
Autorin: Martina Müller