Buchcover: "Am Meer" von Elizabeth Strout

"Am Meer" von Elizabeth Strout

Stand: 06.03.2024, 12:00 Uhr

Lebensfragen im Lockdown: Elizabeth Strouts "Am Meer" ist ein tiefgründiger und warmherziger Roman über das, was Menschen trennt, aber auch über das, was sie verbindet und ihnen in Krisen weiter hilft. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Elizabeth Strout: Am Meer
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Roth.
Luchterhand, 2024.
288 Seiten, 24 Euro.

"Am Meer" von Elizabeth Strout

Lesestoff – neue Bücher 06.03.2024 05:18 Min. Verfügbar bis 06.03.2025 WDR Online Von Andrea Gerk


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"Am Meer" beginnt in den ersten Wochen der Pandemie und es gibt ein Wiedersehen mit vielen Figuren, die Strouts Leser schon kennen – allen voran die aus extrem armen Verhältnissen stammende Schriftstellerin Lucy Barton.

Ihr Ex-Mann William, mit dem es schon in Strouts letztem Roman "Oh William" eine Annäherung gab, überredet Lucy, mit ihm New York zu verlassen und vorübergehend in ein altes Haus an der Küste von Maine zu ziehen. Als Biologe ahnt er, was auf sie und die ganze Welt zugerast kommt. Anders als Lucy (und die meisten von uns):

"Es gab etliches, was ich an diesem Märzmorgen nicht wusste: Ich wusste nicht, dass ich meine Wohnung nie wiedersehen würde. Ich wusste nicht, dass ein Freundin von mir und jemand aus meiner Familie an dem Virus sterben würde. Ich wusste nicht, dass die Beziehung zu meinen Töchtern sich auf eine Weise verändern würde, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich wusste nicht, dass mein Leben von Grund auf anders werden würde. (…) Nichts von alldem ahnte ich, als ich an diesem Märzmorgen mit meinem kleinen lila Rollkoffer zu Williams Auto ging."

In Crosby, einer Kleinstadt in Maine, die Strout schon in mehreren Büchern bespielt hat, werden die beiden nicht nur freundlich empfangen. "New Yorker, haut ab!" wird ihnen am Supermarkt zugerufen, Schilder mit Beschimpfungen kleben an der Windschutzscheibe, weshalb sie die Nummernschilder wechseln. Lucy freundet sich mit Bob Burgess an – einer wunderbaren Figur aus dem Roman "The Burgess Boys" – und mit Charlene Bibber, die im Seniorenheim arbeitet und ehrenamtlich bei der Tafel. Bald stellt sich raus, dass Charlene sich nicht impfen lassen will und an ihrem Auto ein Trump-Aufkleber prangt.

Fast beiläufig zeigt Strout, wie die tiefe Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft in dieser Zeit so richtig Fahrt aufnimmt. Doch wie in all ihren Büchern betrachtet Elizabeth Strout auch in diesem alle Menschen, auch jene, deren Ansichten und Überzeugungen sie nicht teilt, liebevoll und empathisch:

"William schlug die Beine übereinander und sagte: 'Sie sind wütend. Sie kommen auf keinen grünen Zweig im Leben. (…) Lucy, diesen Leuten steht das Wasser bis zum Hals. Und die, denen es besser geht, sind blind dafür. Denk an meine vernagelte Reaktion eben – mich zu wundern, dass diese Charlene bei der Tafel hilft! Wir nehmen sie nicht für voll, und das merken sie. Das ist keine gute Situation.'"

Obwohl oder gerade weil Elizabeth Strout vordergründig vom ganz Alltäglichen erzählt, den Sorgen, die Lucy sich um ihre erwachsenen Töchter macht, von ihrer Verlorenheit im Lockdown und der langsamen Annäherung mit William, ist "Am Meer" doch vor allem ein großer Gesellschaftsroman.

Lucys Herkunftstrauma, das in anderen Romanen im Zentrum stand, lässt sie nicht los und verbindet sie mit Menschen, die ähnliches erleben mussten. In einer sehr bewegenden Szene erinnert sich Lucy an eine Lesung vor lauter desinteressierten Studenten, die keinen Hehl daraus machen, wie sehr sie sie wegen ihrer Herkunft verachten:

"Ich dachte: Eine einzige Stunde lang habe ich an diesem Tag an meinem alten College die Demütigung meiner Kindheit wieder mit solcher Macht empfunden. Was wäre, wenn es mir mein ganzes Leben lang so gegangen wäre, wenn alle Jobs, die ich je angenommen hätte, zu wenig eingebracht hätten, um anständig davon zu leben, wenn ich konstant das Gefühl hätte haben müssen, schief angesehen zu werden von den wohlhabenden Leuten in diesem Land, die sich über meine Religion und meine Waffen lustig machten? (…) Ihnen war jedes Selbstwertgefühl ausgetrieben worden. Überfall begegnete ihnen Verachtung, und sie ertrugen es einfach nicht mehr."

"Am Meer" ist ein tiefgründiger und warmherziger Roman über das, was Menschen trennt, aber auch über das, was sie verbindet und ihnen über Krisen hinweghilft: Die beiläufigen Begegnungen und kurzen Gespräche, die Lucy bei ihren täglichen Spaziergang mit einem alten Mann, der vor seinem Haus sitzt, führt, ebenso, wie die tiefe Verbindung zu ihren bereits erwachsenen Kindern und natürlich das Schreiben.

Mit ihren Büchern, heißt es im Roman, hat Lucy sehr vielen Menschen etwas gegeben. Und genauso ist es mit den Büchern der großartigen Schriftstellerin Elizabeth Strout, an deren Ende man sich immer ein wenig so fühlt, als würde man vor die Tür eines Hauses gesetzt, in dem man mit sehr unvollkommenen, aber sympathisch-menschlichen Menschen zusammen war. Tröstlich ist dann nur, dass es schon im Sommer weitergehen soll mit Lucy Barton und ihren Lieben.