"Das falsche Gewicht" von Joseph Roth

Stand: 08.08.2024, 07:00 Uhr

Ein ehemaliger Militär wird nach zwölf Jahren an die russische Grenze versetzt. Dort wird er Eichmeister. Joseph Roth ist der literarische Chronist der untergehenden k&k-Monarchie. Axel Corti liest "Das falsche Gewicht" wie ein sensibler Beobachter. Eine Rezension von Christoph Vratz.

Joseph Roth: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters
Gelesen von Axel Corti.
Der Audio Verlag, 2024.
1 CD (Laufzeit: 4 Stunden und 1 Minute), 15 Euro.

"Das falsche Gewicht" von Joseph Roth Lesestoff – neue Bücher 08.08.2024 05:24 Min. Verfügbar bis 08.08.2025 WDR Online Von Christoph Vratz

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Alles beginnt wie im Märchen – mit einer bekannten Formel.

"Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also von einem Laden zum andern und untersucht die Ellen und die Waagen und die Gewichte."

Wer von einem Mann berichtet, dessen Lebensaufgabe ganz auf Genauigkeit ausgerichtet ist, schreibt klar und präzise. Das gilt auch für Joseph Roth und den Beginn seines Romans "Das falsche Gewicht".

"Anselm Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. Er war ein alter Soldat. Er hatte seine zwölf Jahre als längerdienender Unteroffizier beim Elften Artillerieregiment verbracht. Er hatte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient. Er war ein redlicher Soldat gewesen."

Der Schauspieler Axel Corti, 1933 geboren und 1993 in der Nähe von Salzburg gestorben, liest vom ersten Kapitel an mit großer Ruhe. Sein Vortrag hat etwas Unbestechlich-Wahrhaftiges – wie der Eichmeister selbst.

"Er kam im Frühling, an einem der letzten Märztage. […] Als Eibenschütz nach dem nördlichen Zlotogrod kam, lag noch der weiße, dichte Schnee in den Straßen, und an den Rändern der Dächer hingen die strengen, die unerbittlichen Eiszapfen."

Mit Joseph Roth hat sich Corti mehrfach auseinandergesetzt. Noch bis kurz vor seinem Tod hat er am Fernseh-Mehrteiler "Radetzkymarsch" mitgewirkt, als Regisseur und Drehbuchautor.

Die Hörbuch-Produktion von "Das falsche Gewicht" stammt aus dem Jahr 1974 und ist jetzt wieder zugänglich gemacht worden. Die Geschichte spielt in der tiefsten Provinz nahe der russischen Grenze. Auch dort entpuppt sich die Habsburger Monarchie als ein dekadentes Gebilde. Überall gähnt ein Abgrund. Das gilt auch für den Amtsvorgänger von Anselm Eibenschütz:

"Aber, was war das für ein Eichmeister gewesen! Alt und schwach und dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Maße und die Gewichte im Städtchen Zlotogrod selbst geprüft, geschweige denn in den Dörfern und Marktflecken, die zum Bezirk gehörten. Deshalb hatte er auch, als er begraben wurde, ein außerordentlich schönes Leichenbegängnis."

Je monotoner das Leben, desto anfälliger ist Eibenschütz für die Reize einer Geliebten. Sie heißt Euphemia und ist die Freundin des ortsansässigen Wirtes. Den bringt Eibenschütz hinter Gittern. Doch als er freikommt, will er an Eibenschütz Rache üben. Das allerdings ist nicht die einzige Gefahr.

"Die Cholera verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines Feuers. Von Hütte zu Hütte, von Dorf zu Marktflecken, von da ins nächste Dorf."

 Eibenschütz verliert mehr und mehr den Halt, er verfällt dem Alkohol.

"Was aber den Eichmeister Eibenschütz betraf, so trank er keineswegs etwa aus Angst vor der Epidemie. Im Gegenteil: Er trank nicht, weil er sich vor dem Sterben fürchtete, sondern weil er am Leben bleiben musste."

Vordergründig geht es in Roths Roman um Genauigkeit, doch zunehmend stehen Einsamkeit, Betrübnis und Kummer im Mittelpunkt. Auch in diesen eher gefühlvollen Momenten erweist sich Sprecher Axel Corti als großartige Besetzung. Vordergründig wirkt er wie ein neutraler Berichterstatter. Doch wenn er am Ende einiger Sätze die Stimme hebt, wirkt das, als würde er mitfühlen, als würde in seinem Vortrag etwas Fragendes mitschwingen: Warum nur?

"Der arme Eibenschütz musste bald selbst feststellen, dass sich merkwürdige Dinge in seinem Gehirn abspielten. Er bemerkte zum Beispiel, dass er die Erinnerung für die jüngst vergangenen Begebenheiten verlor. Er wusste nicht mehr, was er gestern getan, gesagt und gegessen hatte. Es ging schnell abwärts mit ihm, dem stattlichen Eichmeister. Er musste so tun, als erinnerte er sich, wenn er ins Amt kam und der Schreiber mit ihm von einer Anordnung sprach, die er gestern gegeben hatte, an alles."

Gelassen und sensibel, ruhig und einem geradezu musikalischen Gespür für den Fluss der Erzählung – Axel Corti liest Joseph Roths "Das falsche Gewicht" so, wie man es sich nur wünschen kann.