"Wenn die Nacht endet" von Christoffer Carlsson

Stand: 09.08.2024, 07:00 Uhr

Wie Verlust das Leben derer prägt, die zurückbleiben, davon erzählt der schwedische Kriminologe und Schriftsteller Christoffer Carlsson einfühlsam und präzise in seinem neuen Roman "Wenn die Nacht endet". Eine Rezension von Andrea Gerk.

Christoffer Carlsson: Wenn die Nacht endet
Übersetzt aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann.
Rowohlt Kindler, 2024.
464 Seiten, 24 Euro.

"Wenn die Nacht endet" von Christoffer Carlsson Lesestoff – neue Bücher 09.08.2024 04:40 Min. Verfügbar bis 09.08.2025 WDR Online Von Andrea Gerk

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"Lebende und Tote" heißt Christoffer Carlssons neuer Roman im schwedischen Original und das umreißt genau, worum es darin geht: Es geht um die Frage, wie sehr die Verstorbenen das Leben derer prägt, die zurückbleiben. Und – wie es wohl wäre, wenn genau das eintreten würde, was die Hinterbliebenen sich am meisten wünschen, dass die zurückkehren, die sie verloren haben:

"Was hatte er, Sander, eigentlich erwartet? Dass über zwanzig Jahre einfach so verstreichen würden, ohne Spuren und Narben? Er wusste es besser. Die Toten kehren nicht ohne Anliegen zurück, und wenn sie zurückkehren, sind sie nicht mehr, was sie einmal im Leben waren."

Natürlich hat der vielfach ausgezeichnete Christoffer Carlsson keinen Zombie-Roman geschrieben. Vielmehr lotet er erneut – wie schon in den beiden Vorgänger-Romanen "Unter dem Sturm" und "Was ans Licht kommt" die Untiefen in den Seelen seiner Protagonisten aus. Was er als Kriminologe erforscht – die sozialen Folgen und Ursachen von Verbrechen – beschreibt der Schriftsteller Carlsson mit unvergleichlicher Intensität und Komplexität.

Im Zentrum des neuen Romans steht ein Ereignis im Jahr 1999, also kurz vor der Jahrtausendwende: Nach einer Party unter Jugendlichen liegt einer von ihnen, Mikael, erschlagen in einem Auto. Der erste Verdacht fällt auf Killian, aber dessen bester Freund Sander will nicht an seine Schuld glauben:

"Die Geheimnisse des einen waren auch die des anderen. Sie teilten etwas, woran niemand sonst weder teilhaben durfte noch konnte. Vielleicht bestand genau darin die nahezu schwindelerregende Erfahrung, einen besten Freund zu haben, eine beunruhigende Intimität, von der man sich nicht befreien konnte."

Killian verschwindet und für Sander und ein Mädchen – Felicia – in das die beiden Heranwachsenden verliebt waren, geht diese Nacht nie wirklich zu Ende. Sander quälen Selbstvorwürfe und Schuldgefühle. Er, der unbedingt weg wollte aus dem kargen, menschenarmen Halland, um Jura zu studieren, bleibt doch da und wird Lehrer.

Wie schon in Christoffer Carlssons anderen Romanen, bringt erst ein massives Naturereignis etwas in Bewegung, in dem es die Handlungen und Gefühle der Menschen verstärkt: In der Weihnachtsnacht, kurz nach Mikaels Tod, gibt es einen Erdrutsch, der Mikaels Elternhaus und Teile des Dorfes unter sich begräbt:

"Fragte man Felicia nach ihrem Leben in den ersten Jahren nach dem Erdrutsch, erhielt man eine eigentümliche Umschreibung als Antwort. 'Wie schiffbrüchig', pflegte sie zu sagen. 'So war es.' Schiffbrüchig. Das klang nicht nach ihr. Der Vergleich musste von jemand anderem stammen, vielleicht von einem der vielen Psychologen und Ärzte, mit denen sie im Lauf der Jahre zu tun gehabt hatte. Oder von einem ihrer Männer? Wenn es denn überhaupt eine Rolle spielte. Auf die eine oder andere Weise war ihr das Wort angeboten worden, und sie hatte es angenommen, wie ein Verwundeter ein Schmerzmittel annimmt."

Präzise und einfühlsam erfasst Christoffer Carlsson das Grundgefühl seines Romans: Die Unsicherheit, der Eindruck, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, weil das Schweigen, das sich nach dem Verbrechen über das Dorf legt, alles unterhöhlt, bis es in sich zusammenbricht.

Gleichzeitig ist "Wenn die Nacht endet" auch ein fast schon klassischer Coming-of-Age Roman, der von den Schwierigkeiten und Verunsicherungen Heranwachsender erzählt, von der ersten Liebe und bitterem Verrat unter Freunden. Mit dabei ist auch wieder Vidar Jörgensson, der eigenartig normale, unneurotische Kommissar, der alle Bände dieser großartigen Trilogie verbindet. Jeder dieser drei Romane ist tatsächlich ein literarisches Ereignis für sich.