"Bevor ich es vergesse" von Anne Pauly

Stand: 02.08.2024, 07:00 Uhr

Anne Pauly erzählt in ihrem Debütroman "Bevor ich es vergesse" auf ungewöhnliche Weise vom Tod ihres Vaters und vom Umgang mit der eigenen Trauer. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Anne Pauly: Bevor ich es vergesse
Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand, 2024.
176 Seiten, 22 Euro.

"Bevor ich es vergesse" von Anne Pauly Lesestoff – neue Bücher 02.08.2024 05:13 Min. Verfügbar bis 02.08.2025 WDR Online Von Andreas Wirthensohn

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Wie schreibt man über den Tod des eigenen Vaters, wenn es doch schon so viele Autorinnen und Autoren vor einem getan haben? Anne Pauly weiß, dass sie mit ihrem Roman berühmte Vorläufer hat, nicht zuletzt die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die beiden Eltern bewegende Abschiedsbücher gewidmet hat.

Der Titel von Paulys Debüt jedenfalls könnte programmatischer kaum sein: Alles aufschreiben über den toten Vater, bevor ich es vergesse, bevor zu viel von der gemeinsamen Lebenszeit aus der Erinnerung verschwindet. Das ist das Bedürfnis der Tochter von Jean-Pierre Pauly, als dieser den Kampf gegen seine Krebserkrankung verliert. Da liegt er nun im Krankenhaus, der Vater, tot und doch noch nicht ganz aus dieser Welt geschieden, und noch einmal nimmt die Tochter Abschied:

"Die Krankenschwestern hatten seine Augen geschlossen, sein Gesicht in eine Kinnbinde gezwängt, ihm ein blassgrünes, sweatshirtartiges Kittelchen übergezogen. Das war traurig und komisch zugleich, er hätte gelacht über dieses kurze grüne Krankenhaushemd, das kaum seine Knie bedeckte. (…) Während ich seine Hand hielt, die in meiner langsam kalt wurde, wünschte ich mir von ganzem Herzen, niemals seinen Duft zu vergessen und wie weich seine trockene Haut war. Ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich nicht begriffen hatte, dass er tatsächlich im Sterben lag, habe ihn geküsst und dann laut gesagt, Ciao, ich liebe dich, bis später, gib kurz Bescheid, wenn du angekommen bist. Ich bin in den lino-neon Flur rausgegangen, eine Pflegerin ist vorbeigeschlappt, und mein Bruder kam zurück. Wir sind noch ein letztes Mal rein, zur Sicherheit. Dann haben wir die Reusen eingeholt, wie er immer sagte. Das Leben, diese Angelpartie."

Traurig und komisch zugleich, das ist auch dieser Roman. Während all das, was nach dem Tod des Vaters zu erledigen ist – Bestattungsinstitut, Organisation der Beisetzung, das Begräbnis und das Ausräumen des väterlichen Hausstands –, auf die Erzählerin oft eher skurril und komisch wirkt, erfüllen sie die Erinnerungen an den Verstorbenen zumeist mit Traurigkeit. Er, den sie liebevoll "meinen misanthropischen König" nennt, hatte kein leichtes Leben: die Kindheit vom Krieg geprägt, früh die eigenen Eltern verloren, viel gearbeitet und doch fortwährend irgendwie neben dem eigenen Schicksal hergelebt. Die Eltern hätten ihr Bestes gegeben, schreibt Anne Pauly, und das ist keineswegs despektierlich gemeint, sondern von großem Respekt getragen.

Neben einem rebellischen Wesen hat die Tochter vom Vater vor allem eines gelernt: empfänglich zu sein für die Poesie, die von den kleinen Dingen ausgeht, und diese Poesie des Unscheinbaren und Alltäglichen bestimmt auch die Erinnerung an den Verstorbenen: an seinen mühseligen Kampf mit der Krankheit, an das, was man seine Lebensphilosophie nennen könnte, an letzte gemeinsame Abende. Einer dieser Abende ist Anne besonders im Gedächtnis geblieben:

"Ich habe eine leichte, weiche Decke um ihn herum festgesteckt und bin das Geschirr spülen gegangen. Danach haben wir Hand in Hand ferngesehen, ohne uns noch etwas Besonderes zu sagen. (…) Etwas beruhigt, ist er schließlich eingenickt, wenigstens für zwei Stunden. Danach wollte er sich in sein Bett legen, und als er seinen Schlaf röchelnd da wieder aufnahm, wo er ihn unterbrochen hatte, habe ich mich einen Moment zu ihm gelegt. Um ihn abzuschirmen, um seinen Rücken vor der Nacht und der Zugluft zu beschützen, so wie er mich auf seine Weise vor der Mutlosigkeit und dem Schmerz zu leben beschützt hatte, indem er sie an meiner Stelle trug und mir so ermöglichte, nicht allzu viel daran zu denken."

Gelegentlich rutscht Anne Pauly in eine sprachliche Schnoddrigkeit und Flapsigkeit ab, die nicht so ganz zu den berührend poetischen, fein beobachteten Passagen dieses Buches passen will. Trotzdem ist ihr ein sehr eigenwilliger Vater-Roman gelungen, in dem die Zeit vor dem Tod und die Zeit danach, die Zeit mit dem Vater und die Zeit mit dem, was von ihm blieb, oft kunstvoll ineinanderfließen. Schreibend wird der Verstorbene hinübergerettet in die Erinnerung der Nachlebenden. Und schreibend versucht Anne Pauly, die dunklen Wolken der Trauer aufzuhellen. Am Ende ist ihr das auf eindrückliche Weise gelungen.