"Gedicht für den unvollkommenen Menschen" von Agi Mishol

Stand: 06.08.2024, 07:00 Uhr

Der Weltliteratur ebenso nah wie der Umgangssprache: In dem Band "Gedicht für den unvollkommenen Menschen" der israelischen Lyrikerin Agi Mishol stecken Abgründe hinter dem Alltäglichen. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen
Übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Edition Lyrik Kabinett/Hanser, 2024.
112 Seiten, 24 Euro.

"Gedicht für den unvollkommenen Menschen" von Agi Mishol Lesestoff – neue Bücher 06.08.2024 04:17 Min. Verfügbar bis 06.08.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter

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"Von dort kommst du ganz leicht zu mir sogar im Leerlauf rollst einfach bis zu dem Schild »Mishol« – dort
laufen dir Hunde entgegen. Sie bellen
wedeln aber auch mit dem Schwanz
und bevor du aussteigst
musst du entscheiden welchem Ende du glaubst."

Mit dieser Strophe endet das Gedicht "Wie du mit dem Navi zu mir kommst" von Agi Mishol. Fast könnte man meinen, es sei tatsächlich nichts als eine Wegbeschreibung, doch die letzte Zeile überrascht, irritiert, lockt die Leser ins Nachdenken. So dreht Mishol das Prosaische ins Poetische – ein literarisches Vorgehen, das typisch für ihre Verse ist. Mishols Texte nehmen ihren Ausgang vom vermeintlich Unscheinbaren, trügerisch Naheliegenden, doch darin verstecken sich Abgründe:

"Ein Palmenwischer streicht von der Himmelsscheibe
Wörter die blieben nachdem die Liebe ging
und auch die Raben kommen langsam zur Ruhe
kehren zurück in die Zypresse wie das Blut in die Stille"

Agi Mishol kam 1946 als zweite Tochter von Holocaust-Überlebenden ungarischer Herkunft im rumänischen Siebenbürgen zur Welt. 1950 wanderte sie mit ihren Eltern nach Israel aus. Dort studierte und lehrte sie Literatur, vor allem aber machte sie sich als Lyrikerin einen Namen. Heute gilt sie als wichtigste Stimme der zeitgenössischen hebräischen Poesie, und wer ihre jetzt endlich auf Deutsch vorliegenden Gedichte liest, versteht sofort, warum.

"Mit Makeln behaftet wie er ist geliebt bedauert
wie er eben ist wütend und gespalten
hungrig durstig zürnend wollend schwebend
über dem Abgrund der Tiefe
ein Gedicht für den Menschen der ohne Streicheln hinausgeschleudert
aus nächtlichen Träumen in die Träume des Tages"

Es ist ein eigener Ton, der diese Lyrik auszeichnet: lakonisch, humorvoll, der Weltliteratur ebenso nah wie der Umgangssprache. Mishol versteht es, Bäume, Tiere, den Lichteinfall so sinnlich zu beschreiben, dass man nach ein paar Seiten meint, sie schon einmal zuhause besucht zu haben. Natur und Alltag sind bei ihr untrennbar von der politischen Realität im Nahen Osten. Mal genügt eine Datierung wie "Oktober 2023", mal sind es wenige Worte, die den Irrsinn der Gewalt mit beklemmender Intensität hervortreten lassen:

"Du bist erst zwanzig
und deine erste Schwangerschaft ist eine Bombe.
Unterm weiten Kleid gehst du schwanger mit Sprengstoff
und mit Metallteilen gehst über den Markt
tickst zwischen den Menschen."

Die Übersetzerin dieses Bandes, Anne Birkenhauer, berichtet von der Herausforderung, welche Mishols Gedichte beim Übertragen ins Deutsche bereiten. Sie bestehe darin, die Einfachheit des Originals zu bewahren und doch "erkennbar Gedichtzeilen zu schreiben". Blättert man in diesem von der Edition Lyrik Kabinett einmal mehr in hochwertiger Ausstattung herausgegeben Band, teilen sich ständig neue Deutungsschichten mit. Ganz so, wie Mishol es in ihrem Gedicht "Memo" ausdrückt:

"Musst das Unkraut nicht ausreißen
bloß weil es keine Blume ist
und bevor du einen Stein hebst
denk dran er ist auch Dach."