"Reise nach Laredo" von Arno Geiger

Stand: 15.08.2024, 22:55 Uhr

In "Reise nach Laredo" lässt Arno Geiger König Karl V zu einem letzten verrückten Abenteuer aufbrechen. Ein historischer Roman, der ein bisschen ironisch und doch sensibel vom Sterben und der Macht der Fantasie erzählt. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Arno Geiger: Reise nach Laredo
Carl Hanser Verlag, 272 Seiten. 26 Euro.

"Reise nach Laredo" von Arno Geiger Lesestoff – neue Bücher 19.08.2024 05:37 Min. Verfügbar bis 19.08.2025 WDR Online Von Nicole Strecker

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Alle warten nur noch darauf, dass er endlich stirbt: Karl V, der Ex-Kaiser und -König, der ein Riesenreich regierte, und sich nach seiner freiwilligen Abdankung vor anderthalb Jahren in ein Kloster nahe der westspanischen Kleinstadt Yuste zurückgezogen hat. Sein Körper ist längst ein Wrack. Er leidet am Wechselfieber. Die Gicht hat seine Glieder verkrüppelt. Der Griff zum Schmerzmittel Laudanum ist Routine und will er ein Bad nehmen, muss er mittels einer eigens gebauten Hebevorrichtung in den Zuber gelassen werden. So schwebt er nun zu Beginn des Romans über dem dampfenden Wasser, nackt vor großem Publikum.

"Er weiß, dass alle ihn anstarren und sich Gedanken machen über seinen verbrauchten Körper, das stört ihn nicht, es ist ihm lebenslange Gewohnheit, keinen schönen Anblick zu bieten. Während er langsam in die Luft gehoben wird, denkt er, die Menschen verstehen nichts von Nacktheit, deshalb muss man den Körper verhüllen. Aber wenn man alles verhüllen wollte, wovon die Menschen nichts verstehen, was bliebe dann von der Welt?"

Jeder König besitzt zwei Körper, lautet eine gängige These: zum einen den individuellen und sterblichen. Zum anderen den politischen, symbolisch-transzendendentalen, der völlig in der Herrschaftsrolle aufgeht. Aber wie ist das nun bei einem König in Rente?, fragt Arno Geiger süffisant mit seinem neuen Roman und lässt seinen Karl V einen veritable Identitätskrise durchleiden. Wie schon in seinen vorangegangenen Bestseller-Büchern "Der alte König im Exil" oder "Drachenwand" versetzt sich Geiger auch jetzt in seinem historischen Roman mit großer Empathie in die Gefühle und Hirne seiner Figuren, folgt ihren Synapsensprüngen und absurden Abschweifungen. So ist sein Karl ist sich selbst ein Rätsel.

"Karl wollte sich von allen Ämtern zurückziehen und endlich die Person sein, die er nie sein durfte. Aber die Person ist nicht mitgekommen. Wo sie geblieben ist, auf den Schlachtfeldern, in den Geschichtsbüchern, am andern Ufer der Geschichte? Er weiß es nicht."

Aber dann ist es ein gar nicht ernst gemeinter Satz, der alles zu verändern scheint: "Vielleicht sollten wir gemeinsam durchbrennen?", sagt Karl zu Geronimo, einem 11jährigen Jungen, der nicht weiß, dass er der uneheliche Sohn des Königs ist. Und das tun sie dann auch, noch in derselben Nacht - jedenfalls scheint es so. Tatsächlich aber wird sich diese abenteuerliche Reise ans Meer nach Laredo am Ende als Laudanum-Delirium des Sterbenden entpuppen - der 'alte König im Rausch' gewissermaßen. Weniger kontrafaktische Geschichtsschreibung als Don Quijoterie ist dieser charmant-poetische Roman, in dem Arno Geiger wie einst Cervantes seinen Helden gegen das Unrecht kämpfen und mit dem Glück des Verrückten diese Aventüren auch einigermaßen bestehen lässt. [[Karl und sein kleiner 'Sancho Pansa', also der elfjährige Geronimo, retten ein Geschwisterpaar, das als sogenannte "Cagots" zur Gruppe der im Reich Diskriminierten gehört. Das Vierer-Grüppchen landet in einer Toten Stadt im Gebirge bei einem bösartigen Wirt, der sich einen Greif hält, ein Fabelwesen, halb Löwe, halb Raubvogel.]] Der alte Karl reitet, tanzt, säuft, zockt und prügelt sich ungeachtet seines kaputten Körpers. Vor allem aber grübelt dieser royale Ruheständler: über das Wesen der Schönheit, über Gott, eigene Fehler, zieht Bilanz.

"Er sah seinen Lebensweg, der sich von einem Krieg zum anderen schlängelte, von einem Friedensvertrag zum anderen, von einem Vertrauensbruch zum anderen. Und um wie viel besser war die Welt nach all der Mühe?"

So ist diese eigenwillige Cervantes-Adaption eigentlich eine melancholische Fantasie über das Sterben - wobei Arno Geiger großartig das Lebensgefühl des Spätmittelalters rekonstruiert. "Kotzdonner" fluchen die Figuren. Zeitangaben werden in Gebeten gemacht wie das dauert "nicht länger als ein Vaterunser". Und Gewitterdonner wird als Zusammenstoß gefrorener Wolken erklärt. Man muss Arno Geiger bewundern, wie sensibel er den Ton und Geist der Epoche porträtiert, wie selbstverständlich hier die Figuren in der zeittypischen, drall-religiösen Metaphernsprache reden und denken. So imaginiert Arno Geiger mit zärtlicher Ironie den Traum eines Sterbenden und in Momenten gibt er uns auch eine Ahnung, wie sie sein könnte, diese letzte Reise aller Menschen.

"Für einen Moment glaubte er, so könne das Sterben sein, alles passt sich dem Atem an, verliert langsam an Dichte, fängt an zu schweben und verschwindet."