"Reichskanzlerplatz" von Nora Bossong

Stand: 09.08.2024, 09:40 Uhr

Nora Bossong wagt sich an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte. Unter dem Titel "Reichskanzlerplatz" erscheint ihr sechster Roman. Im Mittelpunkt steht Magda Goebbels.

Nora Bossong: Reichskanzlerplatz
Suhrkamp Verlag, 296 Seiten, 25 Euro.
Das gleichnamige Hörbuch ist beim Berliner Audio Verlag erschienen.
Gelesen von Cedric Cavatore.

"Reichskanzlerplatz" von Nora Bossong Lesestoff – neue Bücher 13.08.2024 05:41 Min. Verfügbar bis 13.08.2025 WDR Online Von Ulf Heise (MDR)

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Der Wilhelmplatz in Berlin existiert nicht mehr. Seine Konturen erloschen 1945 nahezu vollständig. Nora Bossong macht diesen Ort symbolträchtigen Ort, der den Nazis einst für Aufmärsche diente, zu einem der Schauplätze ihres neuen Buches. Dort residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung ab 1929 die von einem Industriellen geschiedene Magda Quandt, die später Magda Goebbels hieß. Zum Start der Handlung schildert die Autorin überzeugend, wie die attraktive junge Frau in den Dunstkreis der Ideen des Nationalsozialismus schlittert:

"Wenn jemand bereit sei, sein Leben … in Neu-Babelsberg zu sagen pflegte."

Erzählt wird die Geschichte der Vorzeigefrau des Hitlerreiches aus der Perspektive eines Mannes namens Hans, der schwul ist und sich zu seinem Schulfreund Hellmut hingezogen fühlt. Ungeachtet seiner geschlechtlichen Orientierung beginnt er eine Affäre mit Magda, um seine von Staats wegen unerlaubte Sexualität zu verschleiern. Aber das entpuppt sich nicht als einziger Grund für die Beziehung: Hans sieht sich nämlich von der Persönlichkeit Magdas tief fasziniert:

"Sie war klug … sie verlangte die Lösung."

Von der ersten Zeile an sticht an Nora Bossongs Erzählen die starke psychologische Durchdringung der Figuren ins Auge. Detailgenau fängt die Schriftstellerin Stimmungen ihrer Akteure ein und konstruiert so ein ebenso mitreißendes wie verstörendes emotionales Textgewebe. Den Leser erwartet eine tragische Verwandlung, denn die Gattin des Propagandaministers driftet aus der Wirklichkeit ab und gleicht im Verlauf des Geschehens mehr und mehr einem Zombie:

"Sie stand am Tor ihres Anwesens … dass sie bereits getrunken hatte."

Nora Bossongs Story fußt zwar auf Tatsachenmaterial, erweist sich jedoch trotzdem über weite Strecken als fiktiv. Ähnlich wie Eric-Emmanuel Schmitt in seinem Roman "Adolf H." zieht die Verfasserin in Erwägung, welches Schicksal Magda unter anderen historischen Umständen ereilt hätte. Letztlich begnügt sie sich mit Andeutungen und fokussiert sich stattdessen auf ein düsteres Finale:

"Die Kinder habe ich fürs Reich bekommen … nur der Bodensatz, Abschaum."

Obwohl dieser Schlussakt eine Spur zu plakativ anmutet, schafft es Nora Bossong, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Das hängt damit zusammen, dass sie kein Mitleid mit Magda Goebbels hegt. Im Stil großer deutscher Realisten von Siegfried Lenz bis hin zu Alfred Andersch rechnet sie mit einer Aktivistin ab, die der ideologischen Verblendung verfiel. Das literarische Porträt der Opportunistin glückt ihr daher ungeachtet kleiner Holprigkeiten rundum.