"Die große Versuchung" von Mario Vargas Llosa

Stand: 09.08.2024, 09:40 Uhr

Ein Musikexperte erlebt den Auftritt eines Gitarristen als Offenbarung und schreibt, besessen bis zum Wahn, ein Buch über den Musiker und über die vermeintliche revolutionäre Kraft des peruanischen Walzers. Mit diesem Roman schließt Mario Vargas Llosa altersbedingt sein fiktionales Werk ab. Eine Rezension von Tobias Wenzel.

Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Suhrkamp, 302 Seiten, 26 Euro.

"Die große Versuchung" von Mario Vargas Llosa Lesestoff – neue Bücher 12.08.2024 05:29 Min. Verfügbar bis 12.08.2025 WDR Online Von Tobias Wenzel

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"Diese Musik hat eine regelrechte Revolution ausgelöst."

Sagte Mario Vargas Llosa vor einigen Jahren über den Mambo im Peru seiner Jugend. Nun hat der Literaturnobelpreisträger mit "Die große Versuchung" einen Roman über einen fiktiven Mann geschrieben, der an das revolutionäre Potenzial des traditionellen peruanischen Walzers glaubt. Mario Vargas Llosa liest die Schlüsselszene:

"Die Lichter gingen aus, eine einzige Glühbirne blieb an und beleuchtete ein Fleckchen in diesem Innenhof."

1992 in Lima: Toño Azpilcueta, ein 50-jähriger, vom Leben desillusionierter, aber trotzdem idealistischer Experte für die traditionelle Musik, hört zum ersten Mal den Gitarristen Lalo Molfino einen Walzer spielen. Eine Offenbarung:

"Die Musik hatte die Seelen der Anwesenden so fest in ihren Bann gezogen, dass jeder soziale, ethnische, intellektuelle oder politische Unterschied in den Hintergrund trat. Der Innenhof des Hauses war wie elektrisiert von einer Welle des Miteinanders, es herrschte das Wohlwollen, die Liebe."

Kurz darauf stirbt Molfino. Und Toño beschließt, ein Buch über diesen Gitarristen und über den traditionellen peruanischen Walzer zu schreiben. Seine These: Der Walzer kann die peruanische Gesellschaft, die von Gewalt (etwa durch die der linken Guerilla Leuchtender Pfad) gezeichnet und durch Rassismus geprägt ist, friedensstiftend zusammenführen.

Im Roman wechseln sich Passagen des allwissenden Erzählers zu Toños mühsamen Versuchen, über das Leben des nahezu unbekannten Gitarristen aus dem Norden des Landes etwas in Erfahrung zu bringen, mit Auszügen aus Toños Buch ab. Dieses Buch wird ein großer Erfolg in Peru. Die meisten Leser, Laien auf dem Gebiet der traditionellen peruanischen Musik, dürften sich allerdings sehr langweilen bei der Lektüre der ersten 200 Seiten dieses Romans. Auch, weil es Vargas Llosa nicht gelingt, seinen Figuren, etwa Toños Ehefrau oder Cecilia Barraza, die der realen Sängerin nachempfunden ist und in die Toño heimlich verliebt ist, wirklich Leben einzuhauchen. Sie bleiben blutleer. Im letzten Drittel des Romans blitzt aber noch hier und da das Können des Ausnahmeautors auf. Besessen bis wahnhaft versucht Toño, in die neuen Auflagen seines Buchs die ganze Kultur Perus zu packen. Mit dem Ergebnis, dass das Buch völlig unleserlich wird und auch der mittlerweile für ihn eingerichtete Lehrstuhl wegen mangelnden Interesses der Studenten wieder abgeschafft wird. In der entsprechenden Universitätssitzung dreht der Walzer-Experte, der panische Angst vor Ratten hat, vollends durch:

"'[...] Ich sage nur ein Wort, es wird Ihnen allen bekannt vorkommen: Komplott! In meiner geliebten Universität, aber nicht nur hier, in ganz Peru gibt es eine Verschwörung gegen mich. […] Es gibt einen Namen für all jene, denen die Korruption lieber ist als der Sinn für die Gemeinschaft. Wollen Sie das Wort wissen? Soll ich es Ihnen sagen? Ratten…!' 'Professor Azpilcueta!', unterbrach ihn der Rektor und schlug mit der Hand auf den Tisch. 'Ich erlaube Ihnen nicht, dass Sie das Kollegium oder die Universität beleidigen.' 'Ratten!', rief Toño noch einmal."

Von dieser Tragikomik hätte man sich mehr gewünscht für den allerletzten Roman dieses Nobelpreisträgers. Überhaupt mehr komplexe Charakterstudien anstatt das unaufhörliche Wiederholen der Idee, der peruanische Walzer könne die Gesellschaft retten. Kurioserweise scheint Mario Vargas Llosa wie seine Hauptfigur die Macht der Kunst zu überschätzen. Im September 2020 – da schrieb er schon an seinem letzten Roman – sagte er während einer Rede in Berlin:

"Ich glaube, die beste Art, die Übel unserer Zeit zu bekämpfen, besteht darin, Bücher zu verbreiten und die Menschen von einer besseren Welt träumen zu lassen, von einer anderen Welt, in der es weniger Gründe gibt, um unzufrieden zu sein."

Der größtenteils missglückte Roman "Die große Versuchung" wird sicher nicht dabei helfen, eine bessere Welt zu schaffen oder auch nur von ihr zu träumen.