"Fenster ohne Aussicht" von Dror Mishani

Stand: 29.07.2024, 07:00 Uhr

Ein bestialischer Terrorangriff – und seine unmittelbaren Folgen: In einem persönlichen und gesellschaftlich hellsichtigen Tagebuch dokumentiert Dror Mishani die Wochen und Monate nach dem Hamas-Anschlag auf Israel am 7. Oktober. "Fenster ohne Aussicht" ist eine bewegende Zeitmitschrift. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Dror Mishani: Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Diogenes, 2024.
224 Seiten, 26 Euro.

"Fenster ohne Aussicht" von Dror Mishani Lesestoff – neue Bücher 29.07.2024 05:04 Min. Verfügbar bis 29.07.2025 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer

Download

Jeder neuerliche Blick auf die Seite eines Nachrichtenkanals macht den Schrecken deutlicher:

"Die Raketen waren nur ein Ablenkungsmanöver, unterdessen dringen Terroristen weiter in Ortschaften und Städte im Süden des Landes ein und bringen wahllos Zivilisten um."

Es ist der 7. Oktober 2023, und rasch wird Dror Mishani klar, dass hier etwas vor sich geht, das alle Vorstellungen der an Terror durchaus gewöhnten Israelis übersteigt. Der international erfolgreiche Krimiautor ist auf einem Literaturfestival in Toulouse, Frau und Kinder sind in Tel Aviv. Die Panik wächst.

"Ich schicke eine kurze Nachricht an Marie-Caroline Aubert, meine Freundin und Lektorin beim französischen Verlag Gallimard, um sie zu warnen, dass ich meine Reise womöglich abkürzen muss. Schreibe: MERDE. LA GRANDE GRANDE GUEERE A COMMENCÉ."

"Scheiße. Der große Krieg hat begonnen": Prägnanter lässt sich nicht ausdrücken, wie sich der 7. Oktober angefühlt haben muss. Mishani reist zurück nach Israel. Und er beginnt damit, ein Tagebuch zu schreiben – nicht allein, weil er sich zu sonst keiner Arbeit in der Lage fühlt. Wie könnte er in dieser Situation an einem Kriminalroman schreiben oder an seine Arbeit als Literaturdozent denken? Es geht auch darum, seiner Angst und Unsicherheit einen Ort zu geben und die täglich sich verändernde Lage auf dem Papier zu ordnen.

Das "Tagebuch aus Tel Aviv", dessen Kapitel verschiedene Phasen des nun beginnenden Kriegs und des eigenen Empfindens nachzeichnen, ist ein eindrückliches Dokument der Ohnmacht. Aber es ist auch der Versuch, inmitten des Chaos, der Propagandaschlacht, der nun auch von israelischer Seite zu verantwortenden Grausamkeiten nicht den menschlichen Blick zu verlieren.

"Die Zahl der Kriegsopfer steigt minütlich, so wie die der Ermordeten am 7. Oktober in Israel. Unter den Hunderten von Toten sind viele Kinder. Eltern tragen ihre Kinder auf dem Arm zu den Krankenhäusern. Auf unseren Nachrichtenkanälen dagegen bekommt man Gaza so gut wie nicht zu sehen, wird nicht einmal darüber berichtet, dass die Bodenoffensive bereits begonnen hat."

Dror Mishanis Bruder prophezeit einen Krieg gegen den Libanon; mit der Mutter führt er Streitgespräche. Sie vergleicht die Hamas-Kämpfer mit Nazis und lässt sich zu drastischen Aussagen hinreißen.

"Aus Sicht meiner Mutter ist die Teilhabe am Krieg durch das Anschauen von Videoaufnahmen des Massakers und den fortlaufenden Nachrichtenkonsum so etwas wie ein Initiationsritus in Israelisch-Sein für unbeschwerte Jungen und Mädchen, die gedacht haben, das Leben bestehe nur aus Katzenvideos auf TikTok oder Taylor-Swift-Songs. So eine Art Bund der Beschneidung, eine nationale Brit-Mila."

Gegen die Lähmung lässt sich Mishani zusammen mit anderen Universitätsangehörigen als Helfer in der Landwirtschaft einteilen – die ansonsten diese Arbeiten verrichtenden Thailänder sind ausgereist. Er denkt über politische Artikel nach. Erkennt aber durchaus das aufgeladene Klima, in dem sie erscheinen würden.

"Wer gerade nicht Jagd auf Terroristen in Gaza macht, trägt das Seine zum Krieg bei, indem er sich an der Jagd auf Prominente beteiligt, die das Massaker nicht nachdrücklich genug verurteilt haben oder auch danach noch ‚linke Ansichten‘ äußern."

"Fenster ohne Aussicht" hat Mishani seine Zeitmitschrift genannt, die nun nur kurze Zeit nach den Ereignissen, übersetzt von Markus Lemke, auf Deutsch herauskommt. Man darf darin keine exzellenten Analysen suchen oder Lösungsansätze, wie dieser Krieg beendet oder gar der immer wieder befeuerte Nahost-Konflikt beigelegt werden könnte.

Aber aus dem Innern Israels erfahren wir mit diesem Tagebuch, welches Unheil die Verbrechen der Hamas und auch die israelische Regierungspolitik in einer ohnehin fragilen Gesellschaft und explosiven Region angerichtet haben. Es spricht daraus eine Stimme der Vernunft. Auch wenn das Tagebuch keine Zuversicht bieten kann, so doch eine Art Bestärkung des Wissens, dass Rache niemals ein Zukunftsversprechen beinhaltet.