Weil Schulen unnötige Atteste verlangen: Kinderärzte am Limit

Stand: 02.12.2022, 10:15 Uhr

Die Kinderärztinnen und -ärzte im Land schlagen Alarm: Zu viele Patientinnen und Patienten, zu wenig Personal. Hinzu komme, dass viele Schulen in Krankheitsfällen Atteste verlangten und damit das System überforderten.

In den Praxen von Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten ist im Moment "der Teufel" los. Die Wartezimmer sind voll. Die Telefone schellen ununterbrochen. Es ist Erkältungszeit. Eltern kommen mit Kindern, die unter Husten, Schnupfen und Fieber leiden, und hoffen auf lindernde Medikamente.

Praxen völlig überfüllt

"In den letzten Notdiensten an den Wochenenden hier in Münster zum Beispiel haben wir fast regelmäßig über 160 Patienten in einer 12-Stunden-Schicht", berichtet Pedro Garcia, Kinderarzt aus Münster und gleichzeitig Sprecher des Kinder- und Jugendärzte-Netzwerkes Münster und Umgebung. "Das ist zeitlich und arbeitstechnisch ein Arbeiten am Limit. Und es geht schlimmer weiter, weil jetzt kommen die Monate Dezember, Januar, Februar, und die lassen noch viel Schlimmeres erwarten."

"Versorgung in Gefahr"

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in NRW klagt seit vielen Jahren über Ärztemangel. Die Lage würde immer schlimmmer, sagt Verbandssprecher Axel Gerschlauer. "Ein Drittel der Kolleginnen und Kollegen geht in den nächsten fünf Jahren in Rente. Die Versorgung ist in Gefahr." Das NRW-Gesundheitsministerium teilt diese Sorge nicht, räumte in der Vergangenheit aber ein, dass es auch wegen Nachwuchsproblemen vereinzelt zu regionalen Versorgungsengpässen kommen könnte.

Atteste rauben zusätzlich Zeit

"Dabei ist ein Teil des Problems einfach zu lösen", sagt Kinderarzt Gerschlauer mit Hinweis auf die ärztlichen Atteste, die er und seine Kolleginnen und Kollegen tagtäglich ausstellen müssen. Schulen verlangten diese von Eltern als Beweis dafür, dass die Kinder auch wirklich krank sind und nicht einfach nur Unterricht schwänzen wollen. Das führe dazu, dass Eltern mit ihren Kindern in die Praxen kommen, statt die Erkältung oder Atemwegsinfektion zu Hause in Ruhe auszukurieren.

"Ein herkömmlicher Virus-Infekt ist nun mal nicht sinnvoll zu behandeln, außer mit den drei N's: Nurofen, Nasentropfen, Netflix." Axel Gerschlauer
Kinder- und Jugendmediziner, Bonn

Deshalb verbreitet der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in NRW aktuell ein Merkblatt für Eltern mit der Information, dass es keine gesetzliche oder medizinische Notwendigkeit für ein Attest gibt und Eltern deshalb auf den Arztbesuch verzichten sollten.

Gymnasiensprecher weist Kritik an Schulen zurück

Hendrik Snethkamp, Schulleiter des Ratsgymnasiums in Münster und Schulformsprecher, teilt die Einschätzung von Kinderarzt Gerschlauer nicht. Die Schulen würden nur in Ausnahmefällen Atteste verlangen. "Ich kann mir allerdings vorstellen, dass durch diese Coronazeit manche Eltern dazu neigen, aus Vorsicht lieber nochmal zum Arzt zu gehen," erklärt Snethkamp dazu.

Keine Attestpflicht laut Schulgesetz

Das NRW-Schulministerium teilt dazu auf WDR-Anfrage schriftlich mit: "Nach der Bestimmung des § 43 Absatz 2 SchulG können Schulen von den Eltern nur dann ein ärztliches Attest verlangen, wenn begründete Zweifel daran bestehen, dass der Unterricht tatsächlich aus gesundheitlichen Gründen versäumt wird. Eine generelle Regelung, wonach im Falle eines Unterrichtsversäumnisses aus gesundheitlichen Gründen stets oder bei einem Versäumnis von mehr als drei Tagen ein Attest beizubringen ist, sieht das Schulgesetz dagegen nicht vor." Es sei denn, es handele sich um Abschluss- oder Nachprüfungen. Dafür gelten Ausnahmen.

Die Kinder- und Jugendärzte in NRW hoffen auf die Einsicht von Schulen und Eltern. "Wir haben für diese unsinnigen Atteste einfach keine Zeit", sagt der Bonner Kinderarzt Gerschlauer.