Heimkinder können Hilfsgelder beantragen

"Ich bin 72, ich brauche keine Therapie mehr!"

Stand: 02.01.2012, 06:00 Uhr

Ehemalige Heimkinder in NRW können seit Januar 2012 Antrag auf finanzielle Hilfen stellen, bei zwei Beratungsstellen in Köln und Münster. Ein bundesweiter Fonds stellt 120 Millionen Euro zur Verfügung. Doch die Betroffenen macht das Modell wütend.

Von Martina Züger

Runder Tisch Heimerziehung

Der Runde Tisch Heimerziehung

Das Jahr 2012 sollte mit einer guten Nachricht für ehemalige Heimkinder beginnen. Im Dezember 2011 verkündete der Runde Tisch Heimerziehung die Auflage eines 120 Millionen Euro schweren Fonds, in den zu gleichen Teilen Bund, Länder und Kirchen einzahlen. Und so können seit dem 2. Januar 2012 ehemalige Heimkinder zunächst in den elf alten Bundesländern Antrag auf finanzielle Hilfen stellen. Der Runde Tisch rechnet mit 30.000 Anspruchsberechtigten. In NRW nehmen zwei Beratungsstellen – angesiedelt bei den Landesjugendämtern in Köln und Münster – ihre Arbeit auf. 120 Millionen Euro – das klingt viel. Und doch sind die ehemaligen Heimkinder aus den 50er und 60er Jahren empört.

"Fonds ist Mogelpackung"

"Wir wollen keine Almosen, der Fonds ist eine Mogelpackung", sagt Helmut Klotzbücher vom Verein ehemaliger Heimkinder, der als Jugendlicher bei einem Fluchtversuch aus dem Steinbruch, wo er im Auftrag des Heims schuften musste, ein Bein verlor. "Das ist erbärmlich", erklärt Rolf Breitfeld, Betroffener und Mitglied des Runden Tisches Heimerziehung. Und das ehemalige Heimkind Michael-Peter Schiltsky, Mitglied des Arbeitskreises Fondsumsetzung Heimerziehung, sagt resigniert: "Meine Erwartungen sind voll erfüllt. Ich ging nicht davon aus, dass die Sache günstiger für uns ausgeht." Wie funktioniert nun das Modell, das so viel Unmut hervorruft?

Sachleistungen statt Geld

Der Fonds sieht vor, so wenig Leistungen wie möglich in Geld auszuzahlen. 100 Millionen Euro sind für Sachleistungen vorgesehen, 20 Millionen fließen in Rentenersatzansprüche. "Die Gesetzlichen Krankenkassen übernehmen ja nur die Grundversorgung. Der Fonds springt mit besonderen Therapien und Maßnahmen von bis zu 10.000 Euro Maximalwert pro Person ein", erklärt Markus Fischer vom LWL Westfalen, der mit der Einrichtung der Beratungsstelle in Münster mit zwei Mitarbeitern betraut ist. Aus dem Sachleistungstopf werden auch Maßnahmen bezahlt, die einen Aufenthalt im Altersheim verhindern. Markus Becker: "Viele Betroffene haben ja eine Aversion gegen Heime."

Ein Pater und zwei Nonnen mit Schützlingen in einem katholischen Kinderheim

Erziehung in kirchlichem Kinderheim in den 1950er Jahren

Haben Betroffene nachweislich ohne Lohn im Auftrag des Heims arbeiten müssen - Heimkinder berichten von Feldarbeit, Arbeit in Wäschereien, als Hilfskräfte am Bau und bei ortsansässigen Unternehmen – können sie Rentenersatzansprüche in Form einer Einmalzahlung erhalten. Markus Fischer betont, man wolle es mit der Beweislast nicht übertreiben. Es sei längst bekannt, in welchen Heimen Zwang zur Arbeit herrschte. Gewährt wird der Rentenersatz allerdings erst ab dem Alter von 14 Jahren, zu dem Zeitpunkt endete die Schulpflicht. Hat jemand bis zur Volljährigkeit mit 21 Jahren, die bis Mitte der 1970er Jahre galt, gearbeitet, wären maximal 16.000 Euro drin. "Die Summe wird aber eher die Ausnahme sein, weil viele Heimkinder die Einrichtungen früher verließen", erklärt Becker vom LWL. Sind Zahlungen oder Sachleistungen beschlossen, müssen die Betroffenen eine Erklärung unterschreiben, in der sie auf alle weiteren Forderungen gegenüber der öffentlichen Hand, den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden verzichten.

Rente oder Einmalzahlung

Der Verein ehemaliger Heimkinder stellt sich eine adäquate Entschädigung anders vor: 300 Euro Rente monatlich oder eine Einmalzahlung von 54.000 Euro für jeden Betroffenen. Nun ruft der Verein, der größte seiner Art in Deutschland, offen zum Boykott des Fonds auf. "Wir Heimkinder waren Freiwild. Wir fordern eine echte Entschädigung für erlittene Menschenrechtsverletzungen und Zwangsarbeit. Der Fonds zahlt aber nur Beihilfen für Folgeschäden, die wir nach 40 Jahren auch noch beweisen müssen", sagt Helmut Klotzbücher. Und der stellvertretende Vorsitzende Dirk Friedrich berichtet: "Die Betroffenen rufen bei uns an: 'Ich bin 72 Jahre alt, ich brauche keine Therapie mehr!'"

Entschädigung und Entschuldigung sind am wichtigsten

Auch von den beteiligten Politikern und Juristen wird das Wort Entschädigung wohlweislich vermieden, obwohl es im Abschlussbericht des Rundes Tisches Heimerziehung nach Auswertung von 336 gültigen Fragebögen ehemaliger Heimkinder heißt: "Knapp zwei Drittel der ehemaligen Heimkinder melden Ansprüche auf Entschädigung an. Insgesamt zeigt sich, dass die wichtigsten Anliegen Entschädigung, Entschuldigung und die eigene Erfahrung berichten darstellen."

Opfer sind erbost über Verzichtserklärung

Michael-Peter Schiltsky ist zudem entsetzt, dass die Beratungsstellen mit Ausnahme der Stadt Berlin nicht bei freien Trägern, sondern bei den Jugendämtern angesiedelt werden: "Die Menschen sollen sich also bei den Stellen bewerben, die vormals die einweisende Instanz waren. Für viele Betroffene ist das eine neuerliche Kränkung." Dass Rentenersatz erst für Lebensjahre nach dem 14. Geburtstag gezahlt wird, findet er zynisch. Viele Heimbewohner hätten längst vorher arbeiten müssen.

Was bei den Betroffenen ebenfalls nicht gut ankommt: Nicht die gesamte Summe von 120 Millionen Euro fließt direkt in Leistungen an die Heimkinder, zehn Prozent des Fonds-Budgets verwenden die Länder für den Unterhalt der Beratungsstellen. Viele Betroffene sind auch erbost über die Verzichtserklärung und diskutieren hitzig in Internetforen. "Ehemalige Heimkinder seid gewarnt", schreibt User "Martini", alias Martin Mitchell, auf Heimkinder-Forum.de. "Die Verzichtserklärung ist Täterschutz pur." Mitchell, in den 60er Jahren im Heim aufgewachsen, lebt seit vielen Jahren in Australien.

Auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Der Verein ehemaliger Heimkinder wünscht sich nun, die meisten Betroffenen würden das Angebot nicht annehmen und Fonds und Beratungsstellen ins Leere laufen lassen. Für Michael-Peter Schiltsky ist der Kampf nicht zu Ende. "Die Expertisen zum Bericht des Rundes Tisches benennen die Menschenrechtsverletzungen und die Zwangsarbeit, auch wenn der Deutsche Bundestag diese Begriffe vermieden hat." Mit diesen Papieren in der Hand wollen sie nun zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen.

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