Der Podcast zum Nachlesen

Stand: 23.02.2024, 10:40 Uhr

Eigentlich müssten ein Prozent aller Plätze im Stadion Menschen im Rollstuhl und ihrer Begleitperson zur Verfügung stehen. Die Realität sieht anders aus: Fast überall gibt es zu wenig Plätze. Die Folge: Fans im Rollstuhl müssen oft draußen bleiben. Der Podcast zum Nachlesen.

Nora Hespers: Für viele Fans des 1. FC Köln klingen Heimspiele am Wochenende so: Stadion-Atmosphäre. Volle Ränge, es wird gesungen und geschunkelt. Man trifft Freundinnen, Bekannte - manche würden sagen Leidensgenossen.

Und auch Hannelore ist riesiger Fan des 1. FC Köln. Ihre Spieltage aber, die klingen seit Jahren so: Stadion-Atmosphäre aus dem TV. Denn Hannelore nutzt einen Rollstuhl. Und mit dem käme sie zwar in Köln ins Stadion. Aber - es gibt einfach keine Karten.

Hannelore Weiland: "Das ist ja auch Traurigkeit Und Wut. Hängt ja alles zusammen. Man fühlt sich einfach als Mensch zweiter Klasse. Wenn Sie nie Karten bekommen, werden Sie traurig. Man fragt und fragt, man bekommt immer negative Antworten. Dann rufen Sie auch nicht mehr an."

Nora Hespers: Und das ist nicht nur in Köln so. Sondern eigentlich in allen Stadien der 1. und 2. Bundesliga in Deutschland. Und das, obwohl Menschen mit Behinderungen eigentlich ein Recht auf einen Platz im Stadion haben.

Ich bin Nora Hespers. Und mein Kollege Matthias Wolf hat sich für Sport inside intensiv mit dem Thema barrierefreie Stadien in der Bundesliga beschäftigt. Und ist mir jetzt aus Berlin zugeschaltet. Hallo Matthias!

Matthias Wolf: Hallo Nora

Nora Hespers: Matthias, wir haben grade schon kurz Hannelore gehört. Die ist 63, ist glühender FC Fan - und war noch nie im Stadion. Wie findet man denn Menschen, die eigentlich bislang nirgends auftauchen?

Matthias Wolf: Naja, man kontaktiert erstmal alle Fanclubs für Rollstuhlfahrer – die gibt es bei jedem Verein. Dann stellt man schnell fest, dass man damit gar nicht richtig weiterkommt. Man trifft zwar auf Menschen, die nur ganz selten eine Karte bekommen – aber die wollen gar nicht vor der Kamera sprechen. Aus Angst, erst Recht keine Karten mehr zu bekommen. Ergiebiger waren dann tatsächlich Selbsthilfegruppen oder Behinderten-Einrichtungen. Hannelore Weiland ist tatsächlich im Vorstand der Selbsthilfegruppe Handicap in Bergheim. 

Nora Hespers: Allein das find ich schon heftig, dass sie Angst haben, wenn sie das öffentlich machen, kommen sie erst Recht nicht mehr ins Stadion.

Matthias Wolf: Ja, das hat mich auch betroffen gemacht. Ganz schlimm fand ich, wie mir die Leiterin einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung gesagt hat, sie wollte man an einem so genannten Inklusion-Spieltag, den die Vereine ja gerne mal veranstalten, mit lauter Rollstuhl-Kindern ins Stadion – als Einlaufkinder. Das habe der betreffende Verein mit der Begründung abgesagt, der Rasen ginge von den Rollstühlen kaputt. Maximal ein Kind im Rollstuhl – sonst sei der Aufwand zu groß.

Nora Hespers: Wie ist denn Hannelores Situation eigentlich?

Matthias Wolf: Sie ist ehemalige Verwaltungsfachangestellte der Stadt Köln, lebt mit Muskeldystrophie und nutzt seit 1989 einen Rollstuhl. Ich kann sagen: Sie und ihr Mann lieben Fußball. Die gucken alles im Fernsehen. Ihr Herz aber hängt am 1. FC Köln. Und weil sie da bisher nicht ins Stadion kam, hat sie als "Ersatz" Spiele von Fortuna und Viktoria besucht - um wenigsten ab und an mal das Live-Erlebnis zu haben. Beim 1. FC Köln ging das ja nicht.

Hannelore Weiland: "Und da wurde mir ja immer gesagt, es gibt keine Karte mehr oder die sind alle belegt oder ich bin zu spät. Seit wann kann ich denn am besten anrufen für Karten? Ja, versuchen Sie dann mal nächstes Jahr. Ja, und da gehen die Jahre drauf. Und irgendwann hören sie auf zu fragen. Irgendwann. Soundso. Hat keinen Sinn. Lass es sein."

Nora Hespers: Jetzt hat aber der 1. FC Köln doch - genauso wie viele andere Vereine der 1. und 2. Bundesliga - Karten für Menschen mit Behinderungen. Da muss doch auch für Hannelore mal eine dabei sein.

Matthias Wolf: Ja, sollte man meinen, ist aber nicht so. Denn beim 1. FC Köln gibt es zwar 100 Plätze für Rollstuhl-Fahrende Fans. Aber 70 dieser Plätze sind schon dauerhaft vergeben.

Markus Rejek: "Wir haben Dauerkarten. Und dann haben wir noch ein Kontingent von knapp 30 Plätzen, die wir verlosen. Und wir machen die Verlosung so, dass der Gewinner sich quasi wieder virtuell hinten in die in die Reihe mit im Grunde anstellen muss, damit wir gewährleisten können, dass möglichst jeder die Chance hat, auch mal ein Heimspiel des 1. FC Köln live mitverfolgen mitverfolgen zu können."

Matthias Wolf: So hat mir das Markus Rejek erkärt, der ist Geschäftsführer des 1. FC Köln

Nora Hespers: Und bei dieser Lotterie hatte Hannelore einfach noch nie Glück?

Matthias Wolf: Jein. Es gibt noch ein Hindernis:

Hannelore Weiland: "Und wenn man kein Mitglied ist, hat man gar keine Chance, Karten zu bekommen."

Matthias Wolf: Das heißt am Ende musst du eine Jahresmitgliedschaft zahlen, um überhaupt mal die Chance auf einen Platz zu haben. Hinzu kommt aber: Menschen mit Behinderung haben häufig gar nicht so viel Geld und tragen ja auch jede Menge andere Kosten. Für Hannelore war so ne Mitgliedschaft einfach nicht drin.

Nora Hespers: Weiß man denn eigentlich, wie viele Menschen sich auf diese 30 Karten regelmäßig bewerben? Das klingt mir insgesamt schon nach nicht so viel.

Matthias Wolf: Da gibt es keine konkreten Zahlen. Aber es sind deutlich mehr Menschen, das bestätigt auch der 1. FC Köln. Es ist eine extreme Mängelverwaltung – und das betrifft nahezu alle Vereine.

Nora Hespers: Das ist bis hierhin schon einigermaßen absurd. Weiß denn der 1. FC Köln eigentlich um diese Situation?

Matthias Wolf: Naja, das mit der Mitgliedschaft wusste Markus Rejek bis zu unserem Dreh nicht. Was er genau weiß: Dass das ein echtes Problem ist. Und da hatte ich schon den Eindruck, dass ihm das nahegeht. Beim 1. FC Köln haben sie auch extra einen Presseverantwortlichen für soziale Fragen, den der Fall von Hannelore sofort betroffen gemacht hat. Das war ehrlich, authentisch.

Nora Hespers: Für mich klingt das erstmal wie: OK, das ist im Fall von Hannelore wirklich doof gelaufen. Und das ist total bestürzend auch, dass sie da als Fan nicht wahrgenommen wird. Aber ist das ein besonderer Fall, weil sie eben nicht Mitglied ist?

Matthias Wolf: Absolut nicht. Ich hab tatsächlich noch weitere Fälle recherchiert. Da gibt es richtige Härtefälle, teilweise läuft es einem da den Rücken runter, Nach unserer Ausstrahlung hat sich ein Vater aus Mönchengladbach gemeldet. Der trägt seinen behinderten Sohn immer ins Stadion und hievt ihn auf seinen Platz – weil es auch dort zu wenig Rollstuhl-Plätze gibt. Und ich habe mit zwei Fans aus Dortmund gedreht. Matthias und Giuseppe, genannt Pino. Und auch die beiden nutzen einen Rollstuhl, sind wirklich Hardcore-Fans von Borussia Dortmund, Matthias ist auch Mitglied im Verein. Und getroffen hab ich die vor dem Stadion, am Tag nach dem Spiel gegen RB Leipzig. Da sah man noch schön auch den Müll vom Vortag, der da rumflog.

Stadion-Atmosphäre Dortmund: You'll never walk alone

BVB-Fan Pino: "Man kommt nur ins Stadion durch Vitamin B, kann man wirklich sagen. Ich habe das letzte Mal eine Karte über den BVB vor drei Jahren bekommen oder so. Das ist einfach ungerecht, verglichen mit denen, mit den Nichtbehinderten, also mit den laufenden Menschen, die halt trotzdem noch die Option haben,  ja, ich hole mir eine Karte über den BVB oder ich habe auch einen Kollegen, der mir noch eine Karte besorgen kann. Das geht relativ schnell. Das ist halt bei uns nicht so."

Nora Hespers: Was macht es denn für Pino und Matthias so schwer, beim BVB an Karten zu kommen?

Matthias Wolf: Das ist ganz einfach: Es gibt nur 72 Plätze in Dortmund. Und davon sind 47 bereits durch Dauerkarten vergeben. Ein Dortmund-Fan hat mir sarkastisch gesagt: "Da haste nur ne Chance, wenn einer wegstirbt. Aber selbst dann gehen die Karten noch unter der Hand weg." Das ist auch so ein Thema: Das Vergabesystem an vielen Standorten ist extrem intransparent. Und: Es gibt in Dortmund keine Tausch- oder Ticketbörse wie bei Tickets für Fußgänger.

Matthias und Pino sind trotzdem extrem flexibel: Bis zwei Stunden vor dem Spiel telefonieren die noch alle Bekannten mit Dauerkarten ab – „gehst Du auch wirklich?“ Es kam schon vor, sagt Matthias, dass er dann zwei Stunden vor Schluss in Hagen zum Bahnhof gehetzt ist – und mit Anpfiff in Dortmund war. Also am Ende sind es nicht nur die Plätze, die fehlende Barrierefreiheit beim Fußball ist ein weites Feld, wie der Behindertenbeauftrage der Bundesregierung Jürgen Dusel sagt:

Jürgen Dusel: "Es gibt Leute, die vielleicht nicht gut sehen können oder Menschen, die nicht gut hören können. Oder Menschen, die beispielsweise leichte Sprache brauchen. Und da ist es eben nicht nur der Platz konkret, sondern das fängt schon mit dem Ticketing an, also kann ich als jemand, der sehr schlecht sieht, mir ein Ticket besorgen. Ist das barrierefrei? Und vor dem Hintergrund ist mir wichtig, immer wieder zu sagen, dass Barrierefreiheit nicht nur diese soziale Dimension hat, also dass man eben gemeinsam ins Stadion geht und Fußball erlebt und gemeinsam schöne Momente erlebt."

Matthias Wolf: Und den letzten Satz finde ich auch nochmal wichtig: Nämlich das gemeinsame Erlebnis. Pino und Matthias zum Beispiel bekommen super selten gemeinsam Karten für ein Spiel. Das heißt, die können das nicht als Freunde erleben.

Nora Hespers: Und ich finde, das ist vielleicht jetzt mal ein guter Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, warum die Situation da so angespannt ist. Denn: Es gibt wirklich erstaunlich wenig Plätze für Rollstuhlfahrende im Stadion.

Matthias Wolf: Also nur ums einmal hier reinzuwerfen: Es gibt natürlich generell ein Problem, bei den Spitzenclubs an Tickets zu kommen. Vor allem bei den Top-Spielen. Aber für Rollstuhlfahrende ist das einfach nochmal krasser. Denn: Für die gibt es wirklich kaum Plätze. Das Stadion in Köln zum Beispiel fasst 50.000 Fans im Ligabetrieb - es gibt aber nur Platz für 100 Rollstuhlfahrende. Also 0,2 Prozent - die Zahl können wir uns schonmal merken. In Dortmund passen 81.365 Fans ins Stadion - da gibt’s 72 Rolli-Plätze. Das sind 0,09 Prozent.

Nora Hespers: Ich mein, ich weiß ja, was jetzt kommt. Aber: Ich finde diese Zahlen wirklich so erschreckend gering. Vor allem vor dem Hintergrund, dass eigentlich geregelt ist, dass es viel viel mehr Plätze geben müsste für Rollstuhlfahrende.

Matthias Wolf: Das kann man schon sagen, das ist absolut zynisch. Das Gesetz, das regelt, wie viele Plätze es für Rollstuhlfahrende im Stadion geben müsste, hat den schönen Namen: Versammlungsstättenverordnung. Und darin ist festgeschrieben, dass in einem Stadion 1 Prozent aller Plätze für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung gestellt werden müssen, ab 5000 Plätzen dann 0,5 Prozent. Explizit ist in der Verordnung in 13 von 16 Bundesländern auch von Sportstadien die Rede. Und die Grundlage für diese Verordnung, die 13 von ist die UN-Behindertenrechtskonvention:

Jürgen Dusel: "Es geht nicht um eine Frage der Nächstenliebe oder nice to have, sondern die Bundesrepublik Deutschland hat die UN Behindertenrechtskonvention ratifiziert, also zu geltendem Recht gemacht."

Matthias Wolf: Das ist nochmal Jürgen Dusel, der da grade spricht.

Jürgen Dusel: "Das hat nicht nur der Bund getan. Im Bundestag, sondern auch im Bundesrat haben die Länder den Finger gehoben. Und darin ist beschrieben, dass Menschen mit Behinderung einen Rechtsanspruch haben auf Zugang zur baulichen Umgebung. Artikel neun ist das und eben auch zu Sportstätten des Artikel 30 und ich finde, es ist Aufgabe des Staates und damit meine ich jetzt in dem Falle konkret auch die Länder nicht nur recht zu setzen, also zu versprechen, dass Teilhabe stattfindet, indem man hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und zu geltendem Recht macht und sagt, das gilt jetzt bei uns, sondern es ist vor allem Aufgabe des Staates und damit meine ich Bund, Länder und Kommunen, weil auch die Kommunen spielen eine Rolle, dafür zu sorgen, dass diese Rechte bei den Menschen ankommen, also dass sie sich darauf verlassen können, Recht nicht nur auf dem Papier zu lesen und zu sagen Ach, das ist ja toll! Sondern tatsächlich sich darauf verlassen können, dass der Staat was tut, dass ich dieses Recht auch leben kann, das ist ein demokratisches Prinzip."

Matthias Wolf: Man muss dazu sagen: Die UN-Behindertenrechtskonvention hat Deutschland 2009 offiziell anerkannt. In dem Jahr hab ich auch zum ersten Mal über die Situation von rollstuhlnutzenden Fußballfans berichtet - und ich sag mal so: Getan hat sich seitdem eigentlich nichts. Laut Musterversammlungsstättenverordnung müsste es 7.400 Rollstuhlplätze in den Stadien der ersten und zweiten Liga geben. Es sind aber nur 3.000.

Nora Hespers: Warum ist das so schwierig? Ich meine, in Deutschland lebt jeder 10. Mensch mit einer Behinderung. Die fahren nicht alle Rollstuhl, aber das ist ja schon eine Hausnummer. Und wenn sie einen Rollstuhl nutzen, dann wird ihnen sowas wie ein Stadionerlebnis erheblich erschwert. Das kann doch nicht sein?

Matthias Wolf: Es ist wie immer kompliziert. Diese Versammlungsstättenverordnung ist von Bundesland zu Bundesland verschieden, wobei im Kern 13 von 16 Ländern sie übernommen haben. Aber an vielen Orten, das beklagt auch Volker Sieger von der Bundes-Fachstelle Barrierefreiheit, gibt es Ausnahmeregelungen übers Baurecht. Alte Stadien genießen dann auch schnell mal Bestandsrecht. Und in NRW zum Beispiel ist die Versammlungsstättenverordnung zum Beispiel auch mit der Sonderbauverordnung zusammengefasst worden. Allerdings: Auch da steht drin: 1 Prozent der Plätze müssen für Menschen mit Rollstühlen und deren Begleitpersonen zur Verfügung gestellt werden. Heißt: Köln und Dortmund liegen mehr als deutlich unter diesen 1 Prozent. Jetzt kommt das Aber: Die Vereine sind nicht immer Betreiber der Stadien, sondern Mieter. Wie in Köln.

Markus Rejek: "Die Stadt selber ist Besitzer des Stadions und dann am Ende auch verantwortlich für entsprechende Umbaumaßnahmen. Jetzt möchte ich da die Verantwortung nicht weiterschieben. Aber es ist nicht immer ganz einfach, weil Sie müssen sich vorstellen, für jeden neuen Platz, den wir beanspruchen, braucht es auch entsprechende andere Vorrichtungen. Es braucht entsprechende Anzahl an behinderten Toiletten mehr, es braucht andere Cateringstationen. Zuwegung auch auch  Entfluchtungswege müssen eingehalten werden bei einer anderen Kapazität. Es ist nicht ganz so einfach, weil es ganz viele bauliche Maßnahmen mit sich zieht."

Nora Hespers: Okay. Also ich verstehe, dass das schwierig ist. Aber: Die gesetzliche Grundlage gilt ja nicht erst seit gestern. Da hätte man durchaus schonmal miteinander ins Gespräch gehen können bei entsprechendem Interesse. Wie sieht das denn in Dortmund aus?

Matthias Wolf: Da kommen wir zum nächsten Punkt: Einige Stadien sind zum Beispiel in Privatbesitz. Und da ist es tatsächlich schwierig, dieses Recht umzusetzen, weil der Staat da nicht eingreifen darf. Überhaupt diskutiert die Politik derzeit sehr stark darüber, auch für private Veranstalter, darunter würden auch die Fußballklubs und die DFL fallen, schärfere Gesetze zur Barrierefreiheit zu erlassen. Damit verbindlicher geregelt wird, dass behinderte Menschen nicht nur barrierefrei ins Rathaus kommen müssen – sondern auch ins Stadion.

Nora Hespers: Aber könnte ich da nicht einfach klagen? Ich meine, wofür gibt es denn sonst so ein Recht?

Matthias Wolf: Ja, das wär schön. Da hat uns auch der Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit gesagt. Es wäre eigentlich mal an der Zeit, dass einer klagt. Und weitere folgen. Dann würden die Klubs vielleicht schon irgendwann genervt einlenken:

Jürgen Dusel: "Also ich persönlich bin der Meinung, das muss dann irgendwann auch mal zu Schadensersatzansprüchen führen, wenn ich tatsächlich nicht teilhaben kann. Das ist nämlich nicht nur eine Frage der Fairness. Ich habe es gesagt nicht nur eine Frage des Goodwill, sondern es ist letztlich eine Diskriminierung, die da stattfindet, wenn Leute da nicht reinkommen können."

Matthias Wolf: Geht aber auch nicht so einfach. Denn man kann als Einzelperson nicht gegen einen Fußballverein vorgehen. Das können nur entsprechende Vereine mit Klagerecht oder die Antidiskriminierungsstellen. Die haben aber keine Befugnis zu klagen.

Nora Hespers: Es tut mir leid, aber ich werde immer fassungsloser - oder desillusionierter, was die Geschichte angeht.

Matthias Wolf: Ja, aber jetzt kommt das Absurdeste an dem Ganzen: Zur Euro im Sommer, da werden in den 10 deutschen Stadien, in denen gespielt wird, die Anzahl der Plätze für Menschen mit Behinderungen deutlich erhöht.

Nora Hespers: Okay, einklagen kann man das nicht, aber es gibt anscheinend eine Macht, die mehr bewegen kann als deutsches Recht.

Matthias Wolf: Ja und das ist absurderweise die UEFA. Die haben bei der Vergabe der EURO nämlich gesagt: Wenn ihr die austragen wollt, dann müssen eure Stadien deutlich barrierefreier werden - und ihr braucht deutlich mehr Plätze für Menschen mit Behinderungen. Und die werden dann jetzt auch gebaut in diesen zehn Stadien. So werden insgesamt 454 zusätzliche Rollstuhlplätze geschaffen. Und, weil die UEFA – die eigentlich noch mehr Rollstuhlplätze wollte - schon gemerkt hat, dass die deutschen Stadionbetreiber rumstöhnen, zumindest auf weitere 200 bis 300 zusätzliche Easy Access Plätze bestanden hat. Für Menschen mit klappbaren Rollstühlen, Rollatoren oder anderen Einschränkungen bei der Mobilität. Und da passiert dann sogar was - auch in den Stadion in Köln und Dortmund.

Nora Hespers: Also nachdem du mir gerade erzählt hast, wie unglaublich kompliziert das ist, in Deutschland mehr Barrierefreiheit im Stadion umzusetzen, kommt die UEFA und macht das mal so eben möglich …

Matthias Wolf: Ja, das kann man so sagen. Was das für Menschen mit Rollstuhl bedeutet, haben mir die beiden BVB-Fans Pino und Matthias auch nochmal sehr plastisch beschrieben, die wirklich beide seit Jahren ins Stadion gehen - wenn sie denn können.

BVB-Fan Pino: "Umso mehr ich darüber nachdenke, dass wir nur drei Mal als Kumpels dann im Stadion waren, umso mehr könnte ich mich aufregen. Das ist echt echt ein Unding. Wir sind ja jetzt regelmäßig auch zusammen im Stadion, wenn die Euro ist, haben wir beide eine Karte. Also sind wir zusammen immer nebeneinander."

BVB-Fan Matthias: "Da sind wir innerhalb von vier Wochen genau so oft zusammen im Stadion, wie in 15 Jahren."

BVB-Fan Pino: "Genau"

Nora Hespers: Wow! Das ist richtig, richtig bitter. Und du hast ja auch an Hannelore miterlebt, wie wichtig es für sie ist, mal im Stadion dabei sein zu können.

Matthias Wolf: Ja, das war wirklich sehr, sehr berührend. Denn wir wollten natürlich vom FC wissen, warum sie es Fans wie Hannelore so schwer machen an Tickets zu kommen - beziehungsweise das so derart verunmöglicht wird. Und Markus Rejek, der Geschäftsführer des FC, der war ernsthaft betroffen von Hannelores Geschichte. Und hat sie deswegen dann gleich zum Spiel eingeladen.

Hannelore Weiland: "Das kann man gar nicht beschreiben. Das Gefühl, die Menschenmassen, die hier runtergingen, das war ja schon bombastisch. Das war schon. Und dann im Stadion rein. Das zu sehen, mal live zu sehen, ohne Fernseher. Das ist ein Gefühl. Da können sich vielleicht viele Menschen gar nicht vorstellen. Wie viele haben, kommen gar nicht in den Genuss. Das dürfen wir einfach nicht vergessen. Also, das live zu erleben ist bombastisch und sollte jeder mal die Möglichkeit haben."

Nora Hespers: So sehr ich mich für Hannelore freue, so bitter ist das gleichzeitig, dass das für sie nicht Normalität sein kann, sondern eine absolute Ausnahme ist. Aber Matthias, jetzt hast du ja gesagt, durch die Euro wird die Zahl der Rollstuhlplätze in den EM-Stadien erhöht - also auch in Köln. Das heißt, Hannelore könnte danach vielleicht auch öfter ins Stadion, oder?

Matthias Wolf: Ja, wenn das nur so wäre. Aber: Diese zusätzlichen, barrierefreien Sitzplätze, die sind in den meisten Stadien provisorisch. Sogenannte fliegende Bauten. Und die sollen - Stand jetzt - nach dem Ende der EM wieder zurückgebaut werden.

Nora Hespers: Ich komm mir grade vor wie in einem ganz schlechten Film. Es ist möglich etwas zu verbessern. Es wird gemacht - aber im Hauptbusiness - in der Bundesliga sagt man dann: Och nöö, komm. Lass mal wieder die Situation verschlechtern.

Matthias Wolf: Ich konnte es auch nicht glauben. Da werden dann aus 144 Plätzen in Dortmund wieder 72 – weil man ja im Bereich der Südtribüne diese Plätze nicht dauerhaft erhalten könne. Dazu fällt mir nix mehr ein, lassen wir mal die Betroffene ihre Gefühle schildern:

BVB-Fan Pino: "Ja, und das ist für mich die größte Katastrophe. Da fühlt man sich wirklich verarscht auf gut Deutsch gesagt. Das ist. Das ist. Für mich ist das wirklich ein totaler Witz."

Jürgen Dusel: "Das empfinde ich als gaga. Um es ganz klar zu sagen. Das ist auch fast zynisch zu sagen, Wir machen das jetzt, weil wir es eben von außen gesagt bekommen, und dann bauen wir wieder zurück. Das ist auch nicht nachhaltig, es ist nicht professionell. Und deswegen erwarte ich, dass das nicht passiert. Ich würde mich sehr wundern, wenn Vereine das wirklich dann auch mit gutem Gewissen tun könnten."

Nora Hespers: Und, wie sieht es aus mit dem Gewissen der Verantwortlichen in der Bundesliga?

Matthias Wolf: Stand jetzt ist das sehr unterschiedlich. In Köln hat die Begegnung zwischen Hannelore Weiland und Markus Rejek tatsächlich was in Bewegung gesetzt.

Hannelore Weiland: "Er nimmt aber verschiedene Sachen mit. Das hat er mir versprochen, wo ich ihn darauf hingewiesen hätte, was man vielleicht für die Zukunft wohl besser managen könnte. Das fand er gut, die Idee und nimmt er auch mit."

Markus Rejek: "Wir haben gelernt, dass viele Dinge, die für die Euro installiert werden, im Grunde fliegende Bauten sind und nachher wieder rückgebaut werden. Aber das wäre genau ein Thema, wo wir uns mit der KSS hinsetzen und die Sinnhaftigkeit befragen und hinterfragen, ob das nicht möglich ist, das beizubehalten."

Matthias Wolf: Also die KSS, von der er da redet, ist die Kölner Sportstätten GmbH, die verantwortlich ist für das Stadion. Und mit der haben wir auch gesprochen. Und die sagen tatsächlich: Wenn der 1. FC Köln es wirklich voll und innig möchte, dann sind die auch in der Lage, mehr Plätze zu schaffen für Rollstuhlfahrer. Und Markus Rejek, der Geschäftsführer des 1. FC Köln, will sich jetzt anschauen auch, wie das mit der Mitgliedschaft ist. Ob da nicht auch eine Barriere abgebaut werden kann.

Nora Hespers: Oh, das find ich aber gut, dass sich der 1. FC Köln da so offen zeigt. Auch wenn das überfällig war. Aber wenn sich da jetzt was bewegt, dann ist das doch super.

Matthias Wolf: Absolut. Und es gibt auch noch ein ziemlich vorbildliches Beispiel: in Frankfurt und Berlin. In beiden Stadien wurde ein sehr innovatives Bestuhlungskonzept umgesetzt. Mit verschiebbaren Klappsitzen. Die können je nach Bedarf als normale Sitzplätze oder als Plätze für Rollstuhlfahrende mit Begleitung genutzt werden. Und die wurden dauerhaft installiert und sollen da auch bleiben. Das hat durchaus was inklusives, weil im Zweifel sogar zwei Begleitpersonen beim Rollstuhlfahrer sitzen könnten. Das hätte dann sogar mal was von Gruppenerlebnis – und nicht, wie zum Beispiel der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung kritisiert: Die Rollifahrer dürfen nur irgendwo für sich alleine hinter die Bande…

Nora Hespers: Und kommt Berlin damit auf die 1 Prozent Rollstuhlplätze, die in der Versammlungsstättenverordnung festgeschrieben sind?

Matthias Wolf: Nicht ganz. Erstmal sind es ein Drittel mehr Plätze, 228. Eigentlich müssten es 375 sein. Aber Berlin kompensiert das zumindest noch mit 348 Easy-Access-Plätzen. 

Nora Hespers: Und wie sieht’s in Dortmund aus? Werden Pino und Matthias in Zukunft auch Bundesligaspiele häufiger gemeinsam anschauen können?

Matthias Wolf: Nein, wie gesagt: Dortmund wird zurückbauen. Wenn ich Dir jetzt sage, dass Pino mittlerweile für zehn EM-Spiele Tickets hat, dann wird das sein Fußballfest. Danach kehrt der graue Bundesliga-Alltag mit Spielen vor dem Fernseher zurück.

Nora Hespers: Jetzt mal ganz im Ernst: Warum tun die sich denn damit so schwer. Ich meine bei weit über 80.000 Fans im Stadion … jeder VIP-Bereich nimmt mehr Platz weg als die Plätze für Rollstuhlfahrende. Warum wird das so überproblematisiert. Weil wir sehen: Wenn die UEFA kommt, dann ist das ja plötzlich doch möglich. Und was vorübergehend möglich ist, muss ja auch dauerhaft möglich sein.

Matthias Wolf: Also wenn’s um die Argumente geht, sagt zum Beispiel der BVB: Wir haben so eine alte Bausubstanz, wir können da nicht viel verändern. Das wird übrigens von Kritikern wie Dr. Sieger bezweifelt. Ein Argument, das ich immer wieder gehört habe ist: Es liegt am Geld. Denn um die gesetzlich festgelegte Zahl an rollstuhlgerechten Plätzen zu bauen, muss natürlich erstmal investiert werden. In Berlin hat man dafür drei Millionen Euro in die Hand genommen.

Das Zweite ist: Ich hab verhältnismäßig weniger Plätze, die auch natürlich weniger Geld bringen. Also auf derselben Fläche könnte ich mindestens doppelt so viele Tickets verkaufen, zu teureren Preisen. Das hat mich geschockt, als der Vertriebschef der Firma, die dieses innovative Bestuhlungssystem entwickelt hat, mir gesagt hat: Er habe sogar einen Stadion-Investor vor sich sitzen gehabt, der ihm gesagt habe, Behindertenplätze seien unwirtschaftlich – er würde gerne ganz drauf verzichten. Hören wir mal Volker Sieger zu dem Thema:

Volker Sieger: "Die Inklusion ist dort sicherlich willkommen, wo sie wenig kostet oder unproblematisch ist. In dem Moment, in dem es an die bauliche Substanz geht, geht es an Geld. In dem Moment, in dem ich einen Architekten engagiere, um überhaupt erst mal eine Machbarkeitsstudie durchzuführen. In dem Moment geht es ums Geld. Und wenn es ums Geld geht? Ich glaube, das haben wir jetzt unlängst mit dem Einstieg des Investors bei der DFL gesehen, hört der Spaß auf."

Matthias Wolf: Volker Sieger ist nicht nur  Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, er nutzt ebenfalls einen Rollstuhl und ist BVB-Fan mit Dauerkarte. Der weiß also auch sehr genau, wovon er redet. Er sagt ganz klar, weil er das Stadion kennt: Auch in Dortmund könnte man mehr Plätze schaffen ohne allzu großen baulichen Aufwand. Aber er sagt auch: Nur wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Nora Hespers: Aber jetzt mal im Ernst: Bei 80.000 Tickets pro Spiel würden sich die 800 erforderlichen Plätze für Rolli-Nutzende doch sicher auch irgendwie querfinanzieren lassen. Ich finde das Argument der Wirtschaftlichkeit recht dünn, möchte ich mal sagen.

Matthias Wolf: Absolut. Auch vor dem Hintergrund dessen, was da so umgesetzt wird von den Vereinen – überall mehrere hundert Millionen Euro. Also kein Verein wird für die Bereitstellung von Rolliplätzen am Hungertuch nagen. Das hat auch Kölns GF Markus Rejek nochmal betont:

Markus Rejek: "Also wir reden jetzt nicht über über eine so hohe Anzahl, als dass das irgendwo in der Bilanz der Vereine jetzt tief einschlägt oder man befürchten könnte, dass deswegen der Stürmer nicht verpflichtet werden kann. Das ist nicht so."

Matthias Wolf: Es liegt bislang wirklich am fehlenden Willen. Und das kann man auch noch an einem weiteren Beispiel sehen: Es gibt von der DFL einen Reiseführer Barrierefreiheit. Der ist von 2018. Darin wird ganz klar gesagt, dass es zu wenig Plätze gibt. Die haben darin sogar die Musterversammlungsstättenverordnung abgedruckt, sprechen von mehr Teilhabe, einer älter werdenden Gesellschaft und haben die Vereine schon damals aufgefordert, die Zahl der Rolliplätze zumindest mal zu verdoppeln. Aber die DFL, die ja sonst alles regelt für ihren Spielbetrieb und die Lizenzerteilung an was weiß ich für Bedingungen knüpft – übt da keinerlei Druck auf die Vereine aus.

Uns haben sie auf unsere Fragen nichtmal geantwortet. Ich weiß nicht: Ist das pure Ignoranz? Tun die nur immer so inklusiv, auch an speziellen Spieltagen – und im Grunde sind ihnen die behinderten Fans egal? Am Ende muss das Thema von allen Seiten mehr Aufmerksamkeit erfahren. Vereine, Verbände, aber auch Aufsichtsbehörden und Kommunen müssten das vorantreiben wollen.

Jürgen Dusel: "Es ist ja nicht ein Akt der Nächstenliebe, sondern wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einer Demokratie. Alle haben das gleiche Recht, keiner ist mehr wert als der andere in der Demokratie. Und alle haben im Grunde das Recht, eben teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben. Demokratie und Inklusion sind im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Und man könnte dann durchaus sagen wenn irgendwie Inklusion nicht richtig stattfindet, dann haben bestimmte Leute auch ein Demokratieproblem."

Matthias Wolf: Und entsprechend hat mir Jürgen Dusel nach unserem Gespräch auch nochmal einen Wunsch mit auf den Weg gegeben:

Jürgen Dusel: "Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land. Ich würde mir wünschen, dass die Frauen Weltmeister werden und die Nationalmannschaft der Männer vielleicht Europameister. Aber, dass wir im Bereich der Barrierefreiheit nicht Kreisliga sind."

Matthias Wolf: Also ich bin wirklich mal gespannt, wie Deutschland da den schnellen Aufstieg schaffen will in punkto Barrierefreiheit. Stand jetzt seh ich da noch nicht so viel Wucht hinter den Plänen.

Nora Hespers: Das wird in der Tat sehr spannend. Matthias, ich danke dir sehr für deine Recherchen an dieser Stelle. Und auch dafür, dass du das Thema nicht aus den Augen verloren hast über die Jahre.

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