Warum wir nach der Zeitumstellung nicht richtig ticken
Stand: 26.03.2016, 16:00 Uhr
Ab Sonntag (27.03.2016) gilt wieder die Sommerzeit. Und damit geht die Diskussion über den Sinn der Zeitumstellung wieder los. Die Gegner freuen sich, weil ein wissenschaftlicher Bericht belegen soll: Eigentlich bringt die Umstellung nichts. Die Fakten.
Von Anja Likusa und Matthias Goergens
Wer hat an der Uhr gedreht?
Zu verdanken haben wir die Einführung der mitteleuropäischen Sommerzeit (MEZ) der Ölkrise von 1973. Um den Energieverbrauch und die Abhängigkeit vom arabischen Öl zu senken, soll das Sonnenlicht während der hellen Sommermonate verstärkt genutzt werden, so der Hintergedanke. In Deutschland verabschiedet der Deutsche Bundestag am 22. Juni 1978 das neue Zeitgesetz, 1980 wird die Sommerzeit offiziell eingeführt. Zurück gibt's die "geklaute Stunde" jeweils im Spätherbst. 2016 wird die Uhr am 27. März eine Stunde vor, in der Nacht zum 30. Oktober eine Stunde zurückgestellt.
Aus 2 mach 3: Alle Jahre wieder …
Alle Jahre wieder sorgt die Zeitumstellung für Verwirrung. Vor oder zurück, so lautet die Frage, die man überall hört. Aber nicht nur das Zeitwirrwarr sorgt für Unmut. Bei Mensch und Tier gerate die innere Uhr durcheinander, die Wirtschaft erleide Verluste und dem Einsparen von Energie sei die Umstellung auch nicht dienlich, so die gängigen Argumente der Gegner der Sommerzeit.
Allen voran Herbert Reul. Das Hin und Her der Zeitumstellung geht dem CDU-Europaparlamentarier auf den Zeiger. Auch die "Initiative zur Abschaffung der Sommerzeit" fordert, die Zeitumstellung wieder abzuschaffen. Rückenwind bekommen die Gegner vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Der hat im Auftrag des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eine "Bilanz der Sommerzeit" in Auftrag gegeben. Veröffentlich werden soll der 200 Seiten starke Bericht nächste Woche, dem WDR liegt er jetzt schon vor.
Gesundheit: Mini-Jetlag für die innere Uhr
Dass die Zeitumstellung im Frühjahr die innere Uhr durcheinander bringt, weiß jeder – und kann mittlerweile auch durch Studien belegt werden. Eine repräsentative Umfrage der DAK aus dem vergangenen Jahr etwa zeigt, dass jeder Vierte in NRW durch Beginn der Sommerzeit an einem Mini-Jetlag leidet. Die Schwierigkeiten reichen von Müdigkeit, Einschlafproblemen, Konzentrationsstörungen und Gereiztheit bis hin zu depressiven Verstimmungen.
Besonders betroffen sind Kinder und alte Menschen. Auch die TAB-Wissenschaftler schreiben in ihrem Bericht, dass der Bevölkerung "... selbst binnen vier Wochen nach der Umstellung der Anpassungsprozess nur unvollständig, beziehungsweise gar nicht gelingt." Wasser auf die Mühlen der Sommerzeitgegner gießt Thomas Kantermann, Chronobiologe an der niederländischen Universität Groningen:
Verwirrung bei Mensch, Wildschwein, Kuh & Co.
Nicht nur der Mensch ist betroffen, auch Tiere verstehen die Welt nicht mehr. Warum die Autofahrer im Frühjahr plötzlich eine Stunde später durch ihr Revier brausen, dürfte für Wildschweine zum Beispiel nicht nachvollziehbar sein. Die Zeitumstellung bringt die nahrungssuchenden Tiere und Autofahrer in Gefahr, denn die vermeintlich sichere Dämmerung fällt nun plötzlich in den morgendlichen Berufsverkehr. Ebenfalls problematisch ist die Zeitumstellung für Kühe. Die sensiblen Nutztiere haben Schwierigkeiten, sich an einen neuen Melkrhythmus zu gewöhnen. Der Rheinische Landwirtschafts-Verband (RLV) empfiehlt Landwirten, die Melkzeiten nicht abrupt zu ändern, sondern nach und nach an die neue Uhrzeit anzupassen.
Wirtschaft: Wenn die Bahn in den Zeittunnel fährt
Laut TAB-Bericht spricht vieles dafür, "dass sich mittlerweile alle Wirtschaftssektoren mit der Anwendung der Sommerzeit arrangiert haben", auch wenn in einigen Branchen die Zeitumstellungen im Frühjahr und Herbst als lästig empfunden werden dürfte. Probleme mit der Zeitumstellung hat nachweislich die Deutsche Bahn. Das Unternehmen muss 120.000 Uhren umstellen und die Züge nachts für eine Stunde anhalten. Die Fahrgäste, ohnehin nicht gerade durch Pünktlichkeit verwöhnt, werden ob der staatlich verordneten Zwangspause auch nicht wirklich amüsiert sein.
Energie: Minimaleinsparung von 0,2 Prozent
Besonders unerfreulich für die Sommerzeitbefürworter: Laut TAB-Studie liegen die Energieeinsparungen, also der eigentliche Grund für die Einführung der Sommerzeit im Jahr 1980, in Deutschland gerade einmal bei 0,21 Prozent. Für den CDU-Politiker Reul ein schlagkräftiges Argument für seinen langjährigen Kampf gegen das ständige Hin und Her der Uhrzeit. Die Entscheidung sei ein politisches Trauerspiel: "Es gibt keine Energieeinsparung, also hat das Ding keinen Sinn", sagt er. Er hofft, dass durch die wissenschaftliche Untersuchung auch der Druck auf die Politik wächst. Das kommt für das EU-Parlament nicht in Frage. Erst 1996 wurden die verschiedenen Sommerzeit-Regelungen in Europa vereinheitlicht. Seit 2002 legt eine EU-Richtlinie fest, dass die Sommerzeit "dauerhaft, EU-weit und für alle Mitgliedstaaten verbindlich" erhalten bleiben muss.
Aber: Uns würden die langen Abende fehlen...
Für Thomas Kantermann, den Chronobiologen von der Uni Groningen, ist "die Sommerzeit eine Kunstzeit und eine falsche Zeit. Es geht nicht allein darum, stets die gleiche Zeit zu haben, sondern auch die richtige Zeit", sagt der Experte. Fragt man im Freundes-, Bekannten- oder Kollegenkreis, finden viele der Befragten die langen, sprich: hellen Abende toll. Aber es bleibt die Frage, ob dieses Argument derart schlagkräftig ist, dass wir mehr als ein halbes Jahr neben unserer inneren Uhr ticken wollen.