Martin von Mauschwitz im Flüchtlingscamp "Dschungel von Calais"

Stand: 18.05.2016, 14:35 Uhr

Auf der Pfingsttour ging es eigentlich um die schönen Seiten der Urlaubsregion an der Nordsee. Doch in Calais stieß Reporter Martin von Mauschwitz auf den "Dschungel", an dem man einfach nicht vorbeischauen kann. In seinem Bericht schildert er den Besuch in dem Flüchtlingscamp, der ihn sehr berührt hat.

Von Martin von Mauschwitz

Krachend schlägt der Unterboden von Katarinas Kleinwagen auf. Wir fahren durch eine Art Lehmwüste. Schlaglöcher, Schlammpfützen. Katarina und Fee, freiwillige Helfer aus Deutschland, nehmen uns mit in den "Dschungel von Calais". Ein wildes Flüchtlingslager, dort wo die Fähren nach England ablegen. 5000 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und vielen anderen Ländern.  Alle haben eine Hoffnung: Irgendwie rüberkommen, nach England wo Verwandte sind, wo es keine Ausweispflicht gibt, wo es leichter ist, ein neues Leben anzufangen.

"Das hier soll Europa sein?" 

Kameramann Jörg und ich schauen uns stumm an. Das soll hier noch Europa sein? Diese Buden, gebaut aus Holzlatten, Paletten, ein bischen Zeltplane. Aufgereiht links und rechts einer „Straße“. Auf dem Brett über einem mit Plane verhangenen Eingang steht „Shop“. Drinnen ein paar Plastikflaschen – sauberes Trinkwasser ist ein Problem hier.  An einem  Bretterzaun steht „Restaurant“. Eine kleine Stadt. Eine, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist, weil es sie offiziell gar nicht gibt.

Im Schritttempo rumpeln wir durch den Dschungel. Immer wieder müssen wir anhalten. Flüchtlinge begrüßen Fee, die sich in vielen Monaten das Vertrauen der jungen Männer aus Afrika erworben hat. Immer wieder schütteln wir Hände, die sich auch uns durchs Autofenster entgegenstrecken. Lachende Gesichter, trotz der trostlosen Lage. Nur wenn ihr Blick auf unsere Kamera fällt, verdüstert sich ihre Mine. Fee vermittelt: Wir filmen keine Gesichter, richten die Kamera nie direkt auf Menschen. Wenn diese Flüchtlinge auf Fotos oder Fernsehbildern wiedererkannt werden, ist ihr Traum von  Großbritannien für immer ausgeträumt.

Die "Kirche" blieb von den Bulldozern verschont

Ein Teil des Camps wurde vor einigen Wochen von Bulldozern niedergewalzt. Die Bewohner flüchteten sich in den übrig gebliebenen Teil. Nur eine Bretterbude steht noch, einsam in dieser Wüste. Auf dem Dach das Kreuz der Christen. An die „Kirche“ haben sie sich nicht herangetraut.

Wir steigen aus, die Kamera im Rucksack versteckt. Ein großer, dunkelhäutiger Mann im Trainingsanzug schiebt die Plastikfolie am Eingang seiner Hütte zurück. „Coffee?“, fragt er lachend. Ich weiß nicht, ob ich mitlachen oder weinen soll. Es ist so beklemmend. Ein junger Kerl winkt uns zu. "Der ist 16", sagt Fee. Ganz allein geflohen aus Eritrea. Er hat einen Onkel in England. Das ist seine Chance. Bis hierher hat er es geschafft. Aber nun ist da der verdammte Zaun.

"Das Gefühl hatte ich zuletzt, als es die DDR-Grenze noch gab"

Man sieht ihn auch als ganz normaler Urlauber auf dem Weg zur Fähre: Plötzlich, links und rechts der Autobahn. Viele Meter hoch. Oben Stacheldrahtrollen. Und dahinter die Zeltstadt, der Dschungel. Das Gefühl hatte ich zuletzt, als es die DDR-Grenze noch gab. Und jetzt sehen wir den Zaun von der anderen Seite. So wie ihn die Flüchtlinge jeden Tag vor Augen haben. Dahinter liegt ihr Traum von einem Leben ohne Angst, ohne Gewalt.

5000 Flüchtlinge in einem Lager, das es offiziell nicht gibt

Wir fahren weiter, in eine Lagerhalle am Stadtrand von Calais. Hier arbeiten die Volunteers. Freiwillige Helfer aus Großbritannien und aus Deutschland. Auf den ersten Blick: Anarchie. Auf den zweiten: kluge Organisation. Da werden Kleiderspenden sortiert, Lebensmittel verladen. Eine improvisierte Großküche versorgt täglich Flüchtlinge mit warmem Essen. „Ärzte ohne Grenzen“ sorgen für wenigstens ein Minimum an medizinischer Versorgung.

Katarina erzählt uns, wie man all das aus dem Nichts aufgebaut hat. Mit Spendengeldern. Die Volunteers bekommen kein Geld. Sie zehren Ersparnisse auf, nutzen Urlaubstage oder haben ihren Job gleich ganz gekündigt. Ohne sie wären 5000 Flüchtlinge ganz auf sich gestellt. Denn für Frankreich, für die EU und damit auch für die offiziellen Hilfsorganisationen darf es das hier alles gar nicht geben.

Schlepper als einzige Hoffnung für Tausende Flüchtlinge

Ich will wissen, welche Perspektive die Flüchtlinge haben. Hinter dem Stacheldrahtzaun. Katarina sagt: "Schlepper." Die nehmen 3000 Euro für den Menschenschmuggel über den Kanal. Mit Garantie. „Das ist ein Mafia-System“, erklärt mir Katarina. "Es gibt LKW, die nicht durch den Thermoscanner müssen.“ Ich frage nach Beweisen. Katarina schüttelt den Kopf.

Auf der Rückfahrt zum Ü-Wagen taste ich nach der kleinen Plastikkarte in meiner Tasche: „Bundesrepublik Deutschland – Personalausweis“. Ich bin legal. Was für ein unverdientes Glück.