Teilnehmer einer Weiterbildungsmaßnahme in einem Schulungsraum

″Denen, die haben, wird weiter gegeben″

Stand: 09.11.2019, 00:00 Uhr

  • Interview mit Erziehungswissenschaftler zu Ungleichheit in der Weiterbildung
  • Michael Schemmann erklärt den "Matthäus-Effekt"
  • Auch Lehrkräfte werden ungleich behandelt

WDR: Gibt es überhaupt eine Ungleichheit in der Weiterbildung?

Prof. Dr. Michael Schemmann: Ja, es gibt Ungleichheit in der Weiterbildung. Mit Blick auf die Teilnahme an Weiterbildung gibt es große Ungleichheiten, die sich entlang verschiedener Merkmale wie etwa Bildungsabschlüsse zeigen. Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss nehmen mit höherer Wahrscheinlichkeit an Weiterbildung teil als Menschen mit einem niedrigen Bildungsabschluss. Man bezeichnet das auch als Matthäus-Effekt: denen, die haben, wird weiter gegeben.

Aber auch mit Blick auf das Angebot gibt es große Unterschiede. So ist die Dichte von Weiterbildungsanbietern in städtischen Räumen deutlich höher als in ländlichen Räumen. Entsprechend entwickelt sich dort auch ein reichhaltigeres und vielfältigeres Angebot.

Und auch bei der Bezahlung der Lehrkräfte in der Weiterbildung gibt es Ungleichheiten. So werden Lehrkräfte in der Weiterbildung schlechter bezahlt als in anderen Bildungsbereichen, aber auch innerhalb der Gruppe der Lehrkräfte in der Weiterbildung gibt es große Unterschiede.

Dr. Michael Schemmann ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung / Weiterbildung an der Universität zu Köln. Sein Schwerpunkt ist u.a. die Strukturforschung in der Weiterbildung.

WDR: Gibt es dabei Unterschiede zwischen Erwachsenenbildung im staatlichen Schulsystem (″formal″), Programmen außerhalb des Systems (″non-formal″) und dem Lernen im Alltag (″informell″)?

Schemmann: Grundsätzlich zeigt ein Blick auf die Teilnahme an Weiterbildung, dass diese über die Zeit angestiegen ist und im Jahr 2018 bei 54 Prozent liegt. Das bedeutet, dass statistisch gesehen mehr als die Hälfte der 18- bis 64-Jährigen an Weiterbildung teilnehmen. Bei der formalen Erwachsenenbildung beteiligen sich besonders junge Erwachsene, die sich noch im Rahmen einer ersten (Aus-)Bildungssequenz befinden, vergleichswiese häufig. Auch regional lassen sich Unterschiede erkennen, denn die altersübergreifende Teilnahme an formaler Weiterbildung ist in Ostdeutschland leicht geringer als in Westdeutschland.

Hinsichtlich der Beteiligung an non-formaler Bildung lässt sich dieser Ost-West-Unterschied ebenfalls ausmachen.

WDR: Ist eine Gruppe besonders von der Ungleichheit betroffen?

Schemmann: Wie bereits oben angedeutet gibt es vielfältige Merkmale, entlang derer sich Ungleichheit oder Benachteiligung entfaltet. Nehmen wir nochmals den erwähnten Matthäus-Effekt, wonach Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen auch mit höherer Wahrscheinlichkeit an Weiterbildung teilnehmen: Erklären lässt sich dies etwa mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er geht davon aus, dass Personen mit hohen Bildungsabschlüssen in guten Arbeitsverhältnissen neben monetären Gütern auch über ein ausgeprägtes soziales Netzwerk verfügen. Solche Personen können ihre eigenen Bildungsbedarfe häufig selbstständig identifizieren und entsprechende Angebote ermitteln und aufsuchen.

Des Weiteren stellt die Teilnahme an Weiterbildung auch für Menschen mit einem Migrationshintergrund eine besondere Herausforderung dar. Obgleich der Begriff der Migrationsgesellschaft in der Weiterbildungslandschaft angekommen zu sein scheint, müssen sich die Einrichtungen der öffentlichen Weiterbildung noch entschlossener gegenüber Migrantinnen und Migranten öffnen.

WDR: Von welchen Faktoren ist es grundsätzlich abhängig, ob Menschen sich weiterbilden?

Schemmann: Die vielfältigen Faktoren lassen sich wie folgt bündeln: Zunächst sind individuelle Faktoren zu berücksichtigen. Beispielsweise ist der Faktor Selbstwirksamkeit von Bedeutung. Wenn ich ein ausgeprägtes Zutrauen in meine eigenen Möglichkeiten habe, gehe ich die Herausforderung einer Weiterbildung auch entsprechend zuversichtlich an. Darüber hinaus ist die Lebenslage zu nennen. Einen Geburtsvorbereitungskurs besucht man aller Voraussicht nach nur, wenn man auch ein Kind erwartet. Ein Angebot zur Vorbereitung auf den Ruhestand besucht man vermutlich nur dann, wenn dieser auch in Kürze ansteht. Und schließlich sind auch strukturelle Faktoren zu nennen: Gibt es Anbieter oder Angebot in meiner Nähe? Gibt es Finanzierungsmöglichkeiten wie etwa Bildungsgutscheine?

Der Teilnahme an Weiterbildung geht also ein komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichsten Faktoren voraus.