Nach 160 Jahren Stahlgeschichte
Die große Flutung
Stand: 01.10.2010, 02:00 Uhr
In Dortmund wird am Freitag (01.10.2010) der Phoenixsee geflutet. Der Bau des künstlichen Sees auf dem einstigen Gelände eines Stahlwerks dauerte drei Jahre länger als geplant. Trotzdem ein Grund zum Feiern, sagt Heimatkundler Willi Garth.
Von Katrin Schlusen
Kaum jemand kennt sich im Dortmunder Stadtteil Hörde so gut aus wie Willi Garth. Seit Generationen lebt seine Familie im Dortmunder Süden und hat alles miterlebt: den Aufstieg und Ausstieg aus der Stahlindustrie. Als Heimatkundler arbeitet der 72-Jährige ehrenamtlich in dem Museum in der Hörder Burg. Vom Museum aus hat er den Phoenixsee direkt vor Augen. "Mein Vater hätte das nie für möglich gehalten", sagt er. Denn das Bauprojekt - ein künstliches Gewässer von 1.200 Meter Länge und 300 Meter Breite - kostet ungefähr 200 Millionen Euro und war lange umstritten. Am Freitag (01.10.2010) fällt der offizielle Startschuss für die Flutung des Sees - zwölf Monate wird sie dauern. In dieser Zeit beobachtet WDR.de zusammen mit Willi Garth, wie sich der See und das Leben im Stadtteil verändern.
WDR.de: Heute wird der Phoenixsee geflutet - ist das für Sie ein besonderer Tag?
Willi Garth: Das ist für mich ein wirklich großes Ereignis, das kann ich ohne Umschweife sagen. Ich habe auch ein wenig angezweifelt, dass man nach 160 Jahren Stahlgeschichte auf so einem Gelände einen wunderbaren See machen kann. Anfangs hat man diverse Bedenken gehabt. Auch Leute, die sich da auskannten, haben sich gefragt, ob es Giftstoffe im Boden gebe. Dass das jetzt tatsächlich zu einem guten Abschluss kommt, ist für mich eine tolle Sache.
WDR.de: Ihre Familie lebt seit vielen Generationen in dem Dortmunder Stadtteil Hörde. Wie war es dort früher?
Garth: Es gibt da so ein schönes Gedicht von unserem Hörder Stadtpoeten Wilhelm Wenzel: "Ich komme aus dem Dreckloch Hörde". Es war deprimierend und es gab viel Lärm und Dreck. Wenn man in Hörde geboren und aufgewachsen ist, dann hat man das vielleicht nicht mehr so empfunden, aber ich könnte mir vorstellen, dass es bei meinem Großvater, der aus einem ländlichen Gebiet kam und dann in den Heißbetrieb gekommen ist, Auswirkungen auf das Gemüt hatte. Ich stelle mir das schon schlimm vor, was da abgelaufen ist.
WDR.de: Und doch ist es so, dass die Stahlindustrie dem Stadtteil viel gebracht hat ...
Garth: Das ist ganz unbestritten. Das war eine Art Goldrausch. Die Leute sind nicht umsonst hier hingeströmt. Die kamen freiwillig, weil sie sich viel davon versprachen, wie auch mein Großvater. Für ihn war die Landwirtschaft nicht mehr einträglich. Die Menschen sind in die Betriebe teils ungelernt reingegangen, um leichter Geld zu verdienen und einen besseren Lebensstandard zu haben.
WDR.de: Sie waren auch an einem der schlechtesten Tage in der Geschichte des Stadtteils dabei, nämlich der Schließung des Werks 1998.
Garth: Das war unwirklich. Man hat den Gästen noch einmal den gesamten Ablauf der Produktion präsentiert - von der Anlieferung bis zum Abgießen. Und dann war Feierabend. In einer Halle war ein Leichenschmaus aufgebaut mit Brötchen und Erbsensuppe. Und als ich dann aus dem Tor wieder rausging und mich umdrehte, da brannte die Hörder Fackel, das Wahrzeichen des Stahlwerks, schon nicht mehr. Es war tatsächlich aus und es war ruhig. Man konnte das gar nicht glauben. Bei den Beschäftigten sind die Tränen geflossen. Das waren schon schwere Momente. Es waren gewaltige Einschnitte.
WDR.de: Nachdem das Stahlwerk abgebaut und nach China verschifft wurde, hat man mit den Bauarbeiten für den See begonnen. Dabei wurden auch archäologische Funde gemacht.
Garth: Es sind sensationelle Funde zutage gekommen - vom 13. Jahrhundert angefangen, fortlaufend bis in die Neuzeit. Da ist ein wunderschöner Goldring mit einem Granatstein gefunden worden und ein Ehering, wo Hände ineinandergreifen. Es ist auch Organisches gefunden worden, da das Gebiet Sumpfgebiet war. Da sind sogar Mokassin-artige Babyschühchen, Frauen- und Männerschuhe gefunden worden. Sagenhaft, dass sich das 800 Jahre lang gehalten hat.
WDR.de: Versinken die Funde jetzt im See?
Garth: Es war erst geplant, den Hörder Bach durch die Grabungsstelle durchzustechen. Aber es ist sehr schön, dass eine Fundstelle erhalten bleibt. Es sind steinerne, ganz interessante Bauteile - Grundmauern verschiedener Wirtschaftsgebäude und die Reste einer Kapelle. Da sind wir sehr stolz. Es wird jetzt schon als "Freilichtmuseum" bezeichnet. Es ist zwar nicht groß, aber in der Form einmalig. Momentan haben wir in der Burg auch viele Fundstücke ausgestellt, die auf der Baustelle gefunden wurden.
WDR.de: Mal abgesehen von den offensichtlichen Veränderungen auf der Baustelle selbst, gab es auch Auswirkungen auf die umliegenden Straßen?
Garth: Man hat gemeint, dass sich im Vorfeld doch ein bisschen mehr verändert im Stadtteil. Viele Investoren haben sehr gezögert, aber jetzt, wo die Flutung kurz bevorsteht, da geht es mit Macht voran. Da merkt man mehr Interesse an Firmen, die sich da ansiedeln wollen und das hundertste Grundstück am See ist bereits verkauft.
WDR.de: Was wünschen Sie sich von dem See und auch im kommenden Jahr der Flutung?
Garth: Ich wünsche mir, dass viel Natur übrig bleibt. Man weiß noch nicht, wie dicht tatsächlich gebaut wird. Es muss viel gebaut werden, damit sich das Ganze refinanziert. Ich wünsche mir, dass es viel für die Bürger gibt. In einigen Plänen, die ich gesehen habe, waren schöne Ruhezonen vorgesehen. Der See ist zwar in Hörde, aber ich male mir aus, dass er eine Attraktion für ganz Dortmund wird. Ich bin sicher, es wird eine tolle Sache.
Das Interview führte Katrin Schlusen.