Fünf Türkinnen bei Brandanschlag in Solingen ermordet

20 Jahre nach dem Anschlag in Solingen

"Das hat mich gelähmt und sehr traurig gemacht"

Stand: 29.05.2013, 06:00 Uhr

Am 29. Mai 1993 brannte in Solingen ein Zweifamilienhaus. Fünf Menschen starben bei dem Anschlag, 14 wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Jörg Schönenborn war damals einer der ersten Journalisten am Tatort. Im WDR 5-Interview erinnert er sich.

Vor zwanzig Jahren wurde das Wohnhaus der türkischen Familie Genç von Rechtsextremen niedergebrannt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte vier junge Männer wegen Mordes, sie sind inzwischen alle wieder auf freiem Fuß. Jörg Schönenborn spricht nicht nur über seine Beobachtungen damals als Reporter vor Ort, sondern auch über die aktuelle Relevanz des Anschlags für heutige Integrationsdebatten.

WDR 5: Nach dem Brandanschlag mit rechtsradikalem Hintergrund stand das beschauliche Städtchen Solingen plötzlich in einer Reihe mit Orten wie Rostock, Hoyerswerda und Mölln, wo es Ausschreitungen und einen Brandanschlag gegeben hat. War an dem Morgen überhaupt klar, dass es ein Anschlag war, oder haben Sie gedacht, Sie würden nur zu einem tragischen Unglücksfall gerufen?

Jörg Schönenborn

Jörg Schönenborn

Schönenborn: Ein Kollege, der mich am Telefon informiert hat, hat mir gesagt, dass es sehr wahrscheinlich Tote gibt. Es war klar, dass es ein Anschlag war. Insofern war mein Gedanke: Das rückt jetzt näher. Hoyerswerda, das war irgendwo im Osten und Rostock, das war furchtbar. Aber irgendwie hat man sich ein bisschen damit entschuldigt, dass man gesagt hat, das ist die alte DDR. Aber jetzt kam es in die Nähe.

WDR 5: Was ist das für ein Gefühl, in Ihre Heimatstadt zu kommen und diese dann plötzlich unter einem ganz anderen Aspekt kennenzulernen?

Schönenborn: Ich habe zum ersten Mal erlebt, dass ich da zwar als Reporter war, aber mich fast gelähmt fühlte, weil mir das so nahe ging. Ich kannte die Straße zufällig. Das war nicht in der Nähe, wo ich groß geworden bin, aber ich kannte die Gegend. Und die Bilder vom Tatort sind ja sicherlich noch vielen Menschen in Erinnerung. Dieses freiliegende Haus, das einem da wie auf einem Präsentierteller mit seinen Dachbalken entgegenragt. Das hat mich schon ein Stück weit gelähmt und sehr traurig und sehr klein gemacht.

WDR 5: Wie schwierig ist es, da als Reporter Distanz zu wahren?

Schönenborn: Ich glaube, dass die professionellen Reflexe dann einfach nicht perfekt funktionieren können. Man kann über ein solches Ereignis nicht berichten, als sei da einfach nüchtern etwas abzuarbeiten. Ich erinnere mich, dass Frau Genç mit ihren überlebenden Kindern am zweiten Vormittag auch am Haus war, dass es furchtbare Szenen gab, als sie die Ruine angesehen haben, als sie altes Spielzeug gefunden haben. Da kann man nicht nur professionell sein, das ist klar.

WDR 5: Wie haben Sie das bewältigt?

Demonstranten tragen am 29. Mai 1993 vor dem ausgebrannten Haus der Familie Genc in Solingen türkische Fahnen.

Demonstration am 29. Mai 1993 vor dem ausgebrannten Haus

Schönenborn: Es gab eigentlich einen Fluss der Ereignisse, der das erstaunlich leicht gemacht hat, denn es passierte ja etwas, das im Nachhinein schwer zu verstehen ist. Schon am zweiten Tag waren die Demonstrationen, die teilweise gewalttätig waren, das eigentliche Nachrichtenereignis. Dieser Anschlag wurde benutzt von extremen türkischen, aber auch kurdischen Gruppen, auch deutsche Politiker haben das Ereignis durchaus für ihre Präsentation genutzt. Es gab Zerstörungen in der Stadt, über Nacht richtige Ausschreitungen. Also eigentlich haben uns die Ereignisse ein bisschen da rausgeführt.

WDR 5: Es wurde weltweit über diesen Anschlag berichtet, plötzlich galt Solingen als ein Rückzugsort für Rechtsradikale.

Schönenborn: Da wurde plötzlich der Spiegel vorgehalten. Da wurde sauber recherchiert, welche rechten Strukturen es gab, von denen die Öffentlichkeit in der Stadt nichts wusste. Aber wir leben im Jahr des NSU-Prozesses. Wir leben eben in einem Land, in dem rechter Terror oft nicht sichtbar ist und wir uns auch vorgaukeln können, dass es ihn nicht gibt. Und so war das in Solingen damals auch. Das habe ich damals aber noch nicht so abgeklärt gesehen.

WDR 5: Gaukeln wir uns denn viele Dinge vor? Die Amadeo Antonio Stiftung sagt zum Beispiel in ihrem letzten Report, Rechtsextremismus sei kein ostdeutsches Phänomen. Rechtsradikale Anschläge gebe es überall und oft würden auch Leuten, die darauf hinweisen, Steine in den Weg gelegt werden.

Schönenborn: Ich glaube, es gibt sie nicht überall im gleichen Umfang. Es ist schon so, dass wir uns immer noch damit rausreden können, dass in Ostdeutschland zum Beispiel Ratsfraktionen von der SPD oder CDU kein Briefkastenschild raushängen, weil sie dann ständig kleine Sprengkörper im Briefkasten haben. Es gibt solche Dinge. Die meisten von uns lesen sie vielleicht in der Zeitung, aber nehmen sie nicht zur Kenntnis. Ich finde auch, dass wir, wenn wir in diesen Tagen Beate Zschäpe in München sehen, das ein bisschen als außerirdisch abhaken. Aber das ist eine Frau, die hier ebenso in Deutschland groß geworden ist wie die Mitangeklagten auch.

WDR 5: Wie sehen Sie denn die Darstellung in den Medien, wenn sie den NSU-Prozess und die damalige Berichterstattung zu Solingen vergleichen?

Schönenborn: Es ist so, wie eine höchste Spitze auf einem Diagramm. Da ist unten eine Linie, die nahe Null läuft und plötzlich gibt es einen Ausschlag, der eine Heftigkeit hat und dann aber auch relativ schnell wieder versackt. Ich glaube, das Verdienst der Gesellschaft nach Solingen ist, dass dieser "Peak" nicht so schnell runtergegangen ist, dass es damals wirklich ein breites zivilgesellschaftliches Engagement gab. Menschen, die mit Lichterketten, aber auch mit ganz praktischen Aktionen dafür gesorgt haben, dass das nicht so schnell vergessen worden ist.

Und ich glaube, dass das was in Solingen damals passiert ist, heute so nicht mehr möglich ist, nämlich, dass wir da Gastarbeiter haben, die ein Haus gekauft haben, die mitten in der Gesellschaft leben und die uns trotzdem völlig fremd sind. Die Kinder von Menschen wie Frau Genç, die sind heute Bankangestellte oder Kripo-Beamte oder Rechtsanwalt oder vielleicht auch Verkäufer. Fakt ist, dass der große Teil der Nachkommen dieser Generation heute sehr gut integriert ist.

WDR 5: In Interviews haben Sie den Lichterketten-Journalismus kritisiert, also Journalisten, die eindeutig Positionen beziehen. Warum war das falsch?

Das Mahnmal "Solinger Bürgerinnen und Bürger"

Das Mahnmal "Solinger Bürgerinnen und Bürger"

Schönenborn: Wenn man von einem Krieg berichtet oder von schlimmen Straftaten, wäre es unmenschlich, wenn man da keine persönlichen Reflexe hätte. Aber wenn wir über Demonstrationen berichten, über Lichterketten, über sehr gute oder auch nur gut gemeinte Aktionen, die Integration befördern sollen, dann muss man sich als Journalist nicht zum Anwalt dieser Angelegenheit machen.

Es reicht, das zu beschreiben und dem Zuschauer oder Zuhörer die Gelegenheit zu geben, selber ein Urteil zu treffen. Ich glaube, dass dieser Zeigefinger-Journalismus das Gegenteil erreicht. Wenn ich als Journalist Menschen erreichen will, dann darf ich nicht von vornherein parteiisch sein, dann muss ich offen darstellen, was ist.

WDR 5: Das heißt, 20 Jahre zwar zurückgeblickt, aber wir reden nicht wirklich über ein historischen Ereignis, sondern es ist noch sehr präsent.

Schönenborn: Wir reden über etwas, was bis heute weiterlebt. Aber ich sehe auch die positiven Veränderungen. Wir haben eine andere Gesellschaft heute.

Das Interview führte Jörg Brunsmann im Morgenecho vom 28.05.2013.