Spitzenkandidatin Hannelore Kraft
Die Wohlfühl-Kandidatin
Stand: 23.04.2012, 12:08 Uhr
Sie ist blond, authentisch, zupackend. Kein anderer NRW-Politiker kann es bei den Sympathiewerten mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) aufnehmen. Ist sie wirklich so, oder ist das alles nur Inszenierung? Der erste Teil unserer Serie über die Spitzenkandidaten der Parteien zur Landtagswahl.
Von Rainer Kellers
Ein langer Wahlkampftag geht seinem Ende entgegen, als Hannelore Kraft fast die Fassung verliert. Sie hält eine Rede auf einem Marktplatz, die Sonne sticht ihr in die Augen. Und am Fuße der Treppe, auf der sie steht, rangelt ein empörter Bürger mit einem Sicherheitsmann. Die Ministerpräsidentin gibt sich gütlich, bietet dem Schreihals ein Gespräch an. Doch als der tatsächlich später vor ihr steht und sich weiter empört, wird Kraft ungeduldig. Ein kurzes Blitzen tritt in ihre Augen, ein Verhärten der Gesichtszüge, die Stimme kippt ein wenig. Gleich wird sie zurückschreien. Doch nein, sie fängt sich, nimmt dem Mann rhetorisch den Wind aus den Segeln. Lächelt.
Zurück bleiben lächelnde Bürger
Die meisten Menschen, denen Hannelore Kraft begegnet, sind angetan von der 50-Jährigen. Sympathisch wirkt sie, offenherzig, freundlich. Berührungsängste, Kontaktscheue kennt sie nicht. Jetzt, im Wahlkampf, stürzt sie auf jeden zu, der ihren Weg kreuzt. Immer fällt ihr etwas ein, das sie fragen kann. Jeder Bürger kann das Gefühl haben, die mächtige Landesfürstin interessiert sich gerade sehr für seine Belange. Fast immer bleiben lächelnde Bürger zurück.
Viel Dat und Wat
Von Kontaktscheu keine Spur
Kraft weiß um diese Wirkung. Und setzt sie ein. Im Wahlkampf meidet sie die großen Bühnen, die Auftritte vor Tausenden. Das kann sie zwar auch, aber lieber tingelt sie durch Fußgängerzonen, besucht Firmen und soziale Einrichtungen. Jeden einzelnen SPD-Wahlkreis will sie besuchen, möglichst vielen Menschen begegnen, Hände schütteln, Gespräche führen - Stimmen gewinnen. Darin ist sie ungeschlagen. Wenn sie den Menschen zuhört, werden ihre Züge weich. Die blauen Augen schauen mitfühlend. Sie kommt dem Gegenüber sehr nahe, berührt Arme oder Schultern. Peinliche Gesprächspausen vermeidet sie mit Sätzen wie "und da sind Sie mit Herzblut dabei". Wenn sie ihre Politik erklärt, ballt sie oft die Fäuste. Sagt Dinge wie "das gehört zur Wahrheit dazu" oder "am Ende des Tages". Unüberhörbar mischt sich der Ruhrpott-Slang in ihre Sprache. Manchmal ist es ein wenig viel Dat und Wat.
Eine Politikerin zum Anfassen, das will sie sein. Darin unterscheidet sie sich von ihrem Mitbewerber Norbert Röttgen (CDU), der immer ein wenig unnahbar wirkt. Auch Jürgen Rüttgers hatte gegen Krafts Charme kaum eine Chance. Die vor der Landtagswahl 2010 öffentlich noch wenig prominente Politikerin aus Mülheim verdrängte den bundesweit bekannten Rüttgers aus der Staatskanzlei. Rüttgers hatte sicher selbst einen großen Anteil an der Niederlage. Doch Kraft war auch eine unerwartet schwierige Gegnerin.
Steiler Aufstieg in der SPD
Hannelore Kraft im Jahr 2001
Es war nicht ihr erster Überraschungssieg. Ihre Karriere in der SPD verläuft untypisch und steil. 1994 erst, mit Anfang dreißig, tritt die Unternehmensberaterin und Mutter eines Sohnes in die Partei ein. Ein Jahr später ist sie schon im Vorstand des Unterbezirks Mülheim. Im Jahr 2000 kommt sie in den Landtag, ein Jahr danach macht Wolfgang Clement sie zur Europaministerin, wieder ein Jahr später wird sie Wissenschaftsministerin. Als CDU und FDP 2005 nach 39 Jahren SPD-Herrschaft die Regierung in Düsseldorf übernehmen, ist es Kraft, die als Oppositionsführerin einen Neuanfang einleiten soll. 2007 schließlich tritt Jochen Dieckmann, der blasse, überforderte SPD-Landeschef, zurück, und Kraft wird neue Vorsitzende des größten SPD-Landesverbandes. Sie gilt als Talent, durchsetzungsstark, als Powerfrau.
Kraft schafft es, den zerstrittenen und personell ausgebluteten Landesverband zu einen. 2009 wird sie stellvertretende Bundesvorsitzende. Und im Jahr darauf gelingt ihr, was kaum jemand erwartet hatte: Die SPD ist zurück an der Macht in Düsseldorf. Zum Erfolg muss Kraft letztlich zwar getragen werden. Ohne die energische Grüne Sylvia Löhrmann wäre Schwarz-Gelb womöglich monatelang noch geschäftsführend im Amt geblieben. Doch als sich die beiden Frauen auf eine Minderheitsregierung verständigt hatten, ist der Knoten geplatzt. Kraft ist die erste Ministerpräsidentin in der Geschichte des Landes.
Unpopuläre Maßnahmen bleiben ihr erspart
Zwei, die sich mögen: Kraft und Sylvia Löhrmann
Seither sind erst zwei Jahre vergangen. Doch vieles hat sich verändert. Vom Underdog ist Kraft zum Big Player geworden. Im eigenen Landesverband ist sie unumstritten, auf Bundesebene längst Geheimfavorit für die Kanzlerkandidatur - wenn nicht 2013, dann spätestens 2017. In Umfragen kratzt die SPD im Land an für unmöglich gehaltenen 40 Prozent. Viel glückliche Fügung ist dabei, klar. Kraft kann ihre teuren Wahlversprechen auch deshalb halten, weil die Konjunktur anzieht. Unpopuläre Maßnahmen bleiben ihr so erspart. Auch die schwache Opposition ist ein Glücksfall. Sie ermöglichte der Minderheitsregierung viel beachtete Erfolge und konnte selbst kaum punkten. Ein wichtiger Grund für den Erfolg ist aber zweifellos Kraft selbst.
Sie hat in den zwei Jahren viel dazugelernt, ihr Image perfektioniert. Sie ist nicht mehr die kämpferische Fraktionschefin, das junge Talent mit den Ruhrgebietswurzeln. Ihr Ton ist versöhnlicher geworden, präsidial. Wenn sie in den vergangenen zwei Jahren im Landtag das Wort ergriffen hat, dann oft, um zu schlichten, Versöhnliches zu sagen. Meist ist es sehr still im Landtag, wenn sie spricht, alle hören zu. Das Amt verleiht ihr Autorität.
Große Politik übersetzt in die Erfahrungswelt des kleinen Mannes
Doch sie ist deshalb nicht abgehoben wie ihre Vorgänger Rüttgers, Clement oder Steinbrück. Eher ähnelt sie ihrem Vorbild Johannes Rau. Wie er ist sie immer nah an den Menschen geblieben, kümmert sich um ihre Belange, geht auf sie zu, packt an. Deshalb hat sie ihre "Tatkraft"-Aktion auch als Ministerpräsidentin weitergeführt und sie bissig verteidigt, als die Opposition sie ihr verbieten wollte. In ihren Reden spricht Kraft häufig von diesen Erfahrungen, übersetzt die große Politik in die Erfahrungswelt des kleinen Mannes. Es ist klar, dass dabei keine Politik herauskommen kann, die Kälte ausstrahlt. Lieber macht Kraft neue Schulden, als den Bürgern wehzutun - und erfindet den Politikstil der vorbeugenden Investition. Sie hilft Städten, Studenten und jungen Familien. Stellt lieber ein, als rauszuschmeißen. Die Menschen sollen sich wieder wohlfühlen. Von der Opposition wird Kraft dafür als "Schuldenkönigin" tituliert. Den meisten Bürgern aber scheint das egal zu sein.
Feuchte Augen und kippelnde Stimme
Emotionaler Moment: Die Rede zur Loveparade
Und das liegt daran, dass Kraft authentisch wirkt. Unvergessen ist ihre Rede bei der Trauerfeier für die Loveparade-Opfer. Die feuchten Augen, ihre kippelnde Stimme - nichts davon war aufgesetzt und noch heute, so heißt es, pflegt sie Kontakt zu den Hinterbliebenen der Opfer. Auch wenn Kraft im Stadion von Borussia Mönchengladbach inbrünstig die Vereinshymne mitsingt, wirkt es unverstellt. Niemandem kommt es komisch vor, wenn sie im Urlaub in Neuseeland mit dem Rucksack umherzieht. Kraft ist so. Aber gleichzeitig setzt sie diese durchaus sympathischen Seiten auch vorteilhaft in Szene. Sie hat ein Auge für Bilder, Gesten und Emotionen, die ankommen.
Hauptsache, man fühlt sich wohl
Bei den Bürgern bedient Kraft eine tiefe Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem sympathischen Politiker, dem Kumpeltyp, der nicht von Härten spricht, sondern vom Helfen, der seine Versprechen hält, sich nicht in Skandale verwickelt. Inhalte spielen dabei freilich keine große Rolle. Hauptsache, man fühlt sich wohl.