Spitzenkandidat Joachim Paul
Der Pirat aus dem Nichts
Stand: 28.04.2012, 09:49 Uhr
Die Piraten segeln auf der Erfolgswelle. Längst ist nicht mehr die Frage, ob sie in den Landtag einziehen, sondern in welcher Stärke. Ihr Erfolg hat nichts mit prominenten Köpfen zu tun. Joachim Paul, den Spitzenkandidaten, kennt kaum jemand. Er ist kein hipper Vorzeige-Pirat, könnte sich aber als genau die richtige Wahl erweisen.
Von Rainer Kellers
Es gibt Momente im Leben, die alles verändern. Joachim Paul hat so einen erlebt, am 24. März 2012. Die NRW-Piraten wählen an diesem Tag in Münster ihre Kandidaten für die Landtagswahl. Paul bewirbt sich um Listenplatz eins. Aus Trotz. Denn etliche Neumitglieder, die schnell Karriere machen wollen, haben sich um die vorderen Listenplätze beworben. Paul, selbst Pirat seit 2009 und damit ein alter Hase, will den Neulingen nicht das Feld überlassen. Er tritt ans Rednerpult. Drei Minuten hat er Zeit, den Parteitag für sich zu gewinnen. Er braucht nur zweieinhalb.
Eine Rede aus dem Bauch heraus
"Ich hatte einen guten Tag", sagt er im Nachhinein. Nervös sei er gewesen, wie immer vor öffentlichen Auftritten. Und die Rede sei dann so aus dem Bauch heraus gekommen. Er stellt sich vor, erntet erste Lacher, als er von seinem Dackel erzählt, spricht von Netzwerken. Merkwürdigerweise punktet er jedoch mit Begriffen, die eigentlich nicht zur ersten Wahl des Piratenvokabulars gehören. Mit Freiheit, Respekt, Solidarität. Als einziger Bewerber erhält er mehr als 50 Prozent der Stimmen und landet auf Platz eins. Erwartet hatte das niemand. Paul ist politisch ein unbeschriebenes Blatt.
Dass der Piratenschwarm jene an die Spitze treibt, die nicht zu weit vorausschwimmen, ist nichts völlig Neues. Prominente Parteivertreter werden bei Wahlen schon mal abgestraft, wenn sie zu forsch aufgetreten sind. Michele Marsching, dem Vorsitzenden in NRW, ist das in Münster passiert. Im Vorfeld des Parteitages hatte er gesagt, er könne sich vorstellen, einer Diätenerhöhung im Landtag zuzustimmen. Das nahmen ihm die Piraten übel und wählten ihn nur auf Platz vier. Pauls Triumph ist somit das Produkt einer Eselei und einer trotzigen Rede zur rechten Zeit.
"Die Welt ist nicht verloren"
Trotzdem ist es erstaunlich, dass gerade jemand wie Paul die so angesagten Piraten anführt. Der 54-Jährige ist nämlich das Gegenteil von hip: unauffällig, zurückhaltend, schwarzer Pulli, Haarkranz, Bart. Früher hat er in Rockbands gespielt, den Bass. Auf alten Videos im Netz sieht man ihn mit der Band "Ernst Frosch & Die Original Oberkellner" still lächelnd über die Bühne tapsen. Eine Rampensau sieht anders aus. Paul ist der typische Mann im Hintergrund.
Verändert hat er sich seit dieser Zeit wenig, weder äußerlich noch stilistisch. In Neuss, an seinem Heimatstammtisch - so heißen die Ortsverbände der Piraten -, überlässt er anderen die Sitzungsleitung. "Ich bin hier ganz normale Basisgurke", sagt er. Sein Lächeln knautscht das Gesicht. Hier, in der Kneipe "Marienbildchen", hat er seine politische Laufbahn begonnen. Sein Sohn, "ein absoluter Computer-Nerd", wie Paul sagt, hat ihn 2009 mitgenommen zum Stammtisch. Die Art und Weise, wie die Piraten miteinander umgingen, habe ihm imponiert. Als er an jenem Abend nach Hause kam, habe seine Frau gestaunt: "Du siehst zehn Jahre jünger aus." Ihn selbst hätten die Piraten aus der Depression gerissen. "Seitdem weiß ich, die Welt ist nicht verloren."
Gedrechselte Sätze und knackige Parolen
Ein Satz, der typisch ist für Joachim Paul. Überraschend und auf den Punkt gebracht. Darin liegt die Stärke des promovierten Biophysikers und Medienpädagogen. Reden kann er. Im wissenschaftlichen Betrieb hat er seine Rhetorik geschliffen. "Ich bin ein geübter Vortragsredner", sagt er, "ein Naturwissenschaftler mit Hang zur Philosophie." Oft kombiniert er schlaue, gedrechselte Sätze, die man im ersten Moment gar nicht richtig versteht, mit knackigen Parolen wie: "Demokratie ist kein Konsumprodukt, sondern Verpflichtung." Diese Kombination ist geschickt und bringt jedes Mal Applaus.
In Debatten sollte man ihn nicht unterschätzen. Er hört gut zu, sieht nachdenklich aus. Wenn er aber selbst das Wort ergreift, wirft er sich nach vorne, stützt sich auf den Tisch, fixiert sein Gegenüber mit gesenktem Kopf, spießt ihn beinahe mit einem Finger auf. Jetzt ist er keineswegs mehr die zurückhaltende Basisgurke. Den etablierten Politikern, selbst den gewieften, kann er Paroli bieten.
Der oberlehrerhafte Zeigefinger der Grünen
Sven Lehmann, der NRW-Chef der Grünen, musste das jüngst bei einer Podiumsdiskussion in der Kölner Uni erleben. Lehmann versucht, Paul mit dem Rechtsextremistenvorwurf in die Enge zu treiben. Paul gibt zu, dass seine Partei mit "Wachstumsschmerzen" zu kämpfen habe. Leute mit extremen Ansichten würden den Erfolg der Piraten auszunutzen versuchen, und das Parteiengesetz mache es schwer, diese Leute loszuwerden. Erstmal aber würden Piraten mit jedem reden. Das ist ein wunder Punkt, und der Grüne versucht, hineinzupieken. Doch Paul kontert: "Was ich an euch Grünen nicht mag, ist der oberlehrerhafte Zeigefinger. An dem müsst ihr euch operieren lassen." Das Publikum lacht, Lehmann ist konsterniert.
Wenn man Paul so erlebt, erscheint seine eher zufällige Wahl zum Spitzenkandidaten ein Segen für die Piraten zu sein. Die Partei hat den Ruf, inhaltsleer und in vielen Politikbereichen unentschlossen zu sein. Paul ist es nicht. Das knapp 90 Seiten lange Wahlprogramm hat er drauf, zitiert gerne daraus. Es finden sich viele teure Wunschvorstellungen darin, nicht wirklich seriös gegengerechnet und ohne konkrete Finanzierungsvorschläge. Aber das ficht ihn nicht an. "Das ist unsere Vision, unseren Wählern ist klar, dass wir das nicht alles realisieren können." Aber wenn die Piraten im Landtag sitzen, würden sie an ihren Zielvorstellungen arbeiten.
"Koalitionen sind Politik 1.0"
Eine Regierungsbeteiligung schließt Paul aus. Die Piraten müssten erstmal lernen, wollen nicht über den Tisch gezogen werden. Und mögliche Koalitionspartner? Paul wirft den Kopf zurück, verzieht das Gesicht. "Koalitionen sind doch Politik 1.0." Wenn ein guter Vorschlag komme, werde man dafür stimmen, egal, welche Fraktion ihn mache.
Paul ist überzeugt von dieser Vorgehensweise, wie überhaupt von all den Verfahren, die die Piraten entwickelt haben. Schon 1993, erzählt sein Freund und Assistent Andreas Wagner, habe Paul von HTML gefaselt und behauptet, es werde die Welt verändern. Damals hätten alle gelacht. Paul hat Recht behalten. Nun glaubt er, das Internet sei das Instrument, um in Zukunft Politik zu machen. Es sei Zeit, dass alle Bürger, die ganze Gesellschaft als einziges, großes Netzwerk, sich beteiligten. Die Piraten sei die einzige Partei, die das verstanden habe. "Deshalb dürften wir nicht scheitern."
Einen Shitstorm musste er noch nicht aushalten
Emotional wirkt der ruhige Paul, wenn es an den Markenkern der Piraten geht. Auch dogmatisch. Wenn es um politische Inhalte geht, lässt er mit sich reden. Aber bei der Form ist er kompromisslos. Den Piraten scheint das zu gefallen. Während andere Protagonisten der Partei umstritten sind, hört man wenig Negatives über den neuen Kapitän aus NRW. Einen Shitstorm - eine digitale Protestwelle im Netz - musste er noch nicht über sich ergehen lassen. Dafür bietet er zu wenig Angriffsfläche.
"Ich bin nichts ohne die anderen", hat er in einem Interview gesagt. Das klingt bescheiden. Ist aber auch clever. Sich bei Twitter oder in Blogs in endlosen Rechtfertigungsschlachten aufzureiben, ist nicht sein Ding. Dass er vor lauter Überforderung seinen Hut nimmt, kaum dass er im Landtag sitzt, schließt er aus, ist aber auch nicht zu erwarten. Paul ist ein geerdeter Pirat. Eine ungewöhnliche Wahl. Der Schwarm hat Intelligenz bewiesen.