Ein Pater und zwei Nonnen mit Schützlingen in einem katholischen Kinderheim

Beratungshotline für Ex-Heimkinder

Die Kirche, die Kinder und die Schuld

Stand: 11.01.2010, 12:31 Uhr

Viele Heimkinder wurden bis in die 70er-Jahre in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen gequält. Die Katholische Kirche bietet ab Mittwoch (13.01.2010) eine Hotline für Betroffene an. Das hält die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder für zu wenig.

Ab Mittwoch (13.01.2010) bietet die Katholische Kirche eine bundesweite Hotline für ehemalige Heimkinder an, die in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren in katholischen Einrichtungen untergebracht waren und dort körperliches oder seelisches Leid erfahren haben. Am Montag (11.01.2010) stellte die Deutsche Bischofskonferenz das Angebot vor. In erster Linie soll den Betroffenen durch das Gesprächsangebot die Möglichkeit gegeben werden, ihre Biografie aufzuarbeiten. Außerdem werden therapeutische Dienste vermittelt. Und es soll bei der Suche nach dem richtigen Ansprechpartner für die Einsicht in persönliche Akten geholfen werden.

Betrieben wird die Hotline vom Erzbistum Köln im Auftrag der Bischofskonferenz. Neben der Telefonberatung ist auch eine Onlineberatung möglich - falls gewünscht auch anonym. Das Projekt ist zunächst auf ein Jahr begrenzt, bei Bedarf kann es verlängert werden

Skepsis bei Betroffenen-Organisation

Monika Tschapek-Güntner ist seit Mai 2009 Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder, der mit 450 Mitgliedern größten deutschen Interessenvertretung in diesem Bereich. Sie sagt, es gebe schätzungsweise 500.000 bis eine Million Betroffene. Im Interview mit WDR.de bewertet die 54-Jährige die Erfolgsaussichten einer solchen Hotline und schildert ihre persönlichen Erfahrungen.

WDR.de: Wie bewerten Sie das Engagement der Katholischen Kirche, eine Hotline für Betroffene einzurichten?

Monika Tschapek-Güntner: Grundsätzlich ist jede Maßnahme zu begrüßen. Eine neutrale Beratungsstelle wäre aber besser.

WDR.de: Warum sind Sie skeptisch?

Tschapek-Güntner: Ich persönlich glaube, es werden sich nur wenige melden, weil unter den Betroffenen die meisten ein distanziertes Verhältnis zur Kirche haben. Das liegt alleine schon daran, dass 80 Prozent der kritisierten Einrichtungen unter kirchlicher Trägerschaft standen. Die Gefahr an einer geringen Resonanz wäre dann aber, dass die Kirche sagen kann, es seien nur einige wenige Betroffene.

WDR.de: Sie halten also nicht sehr viel von dieser Hotline?

Tschapek-Güntner: Sie ist ein Tropfen auf den heißen Stein, und meines Erachtens ist sie nicht ehrlich gemeint. Ich denke, die Kirche will damit an Betroffene kommen, die sie dann in Fallstudien einbinden kann. Und durch die Aussagen an der Hotline kann sie im Vorfeld selektieren, wer ihr wohlgesonnen ist.

WDR.de: Die Problematik der misshandelten Heimkinder wurde 2004 zum ersten Mal öffentlich thematisiert. Warum haben die Betroffenen so lange geschwiegen?

Tschapek-Güntner: Das hat viele Gründe: Wir als Betroffene mussten erstmal funktionieren, uns einen Platz in einer Gesellschaft behaupten, die wir nicht kannten. Man wurde nach der Heimzeit draußen abgestellt, nur mit den Klamotten an, in eine Welt, von der man vorher abgeschottet war. Natürlich wollte man auch schnell vergessen. Man war erstmal mit sich beschäftigt. Und wenn man dann doch mal darüber gesprochen hat, was in den Heimen passiert ist, musste man feststellen, dass einem niemand glaubt. Nicht zuletzt kannte man auch das negative Bild, das Heimkindern anhaftet. Die sind alle böse - das ist ein Grundgedanke, der in unserer Gesellschaft von klein auf eingetrichtert wird: Bist Du nicht brav, dann kommst Du ins Heim.

WDR.de: Welche Disziplinierungsmaßnahmen wurden in den Heimen angewandt?

Tschapek-Güntner: Das reichte von Einzelhaft bis zur kalten Dusche. Kollektive Schläge waren an der Tagesordnung, auch, dass man auf den Knien die Holzbohlen des Schlafsaales bohnern musste. In der Einrichtung, in der ich untergebracht war, gab es beispielsweise die Strafe, das Bett eines Kindes mit Schuppenflechte machen zu müssen. Am Schlimmsten daran war, dass dieses Kind uns gegenüber als eklig dargestellt wurde. Das war Strafe und Diskriminierung in einem.

WDR.de: Was hatte das Ganze für psychische Auswirkungen?

Tschapek-Güntner: Es fehlt das Urvertrauen. Man ist misstrauisch und bindungsunfähig, weil man noch nie Liebe gespürt hat. Außerdem wird man von immer wiederkehrenden Existenzängsten gequält, weil einem ständig eingetrichtert wurde: Du hast nichts, Du bist nichts! Es ist unglaublich schwer für mich, darüber zu sprechen. Die Trauer um die Kindheit und den Verlust eines ganzen Lebensabschnitts ist immer wieder überwältigend.

WDR.de: Wird von Kirche und Staat angemessen auf diese Schilderungen reagiert?

Tschapek-Güntner: Natürlich kommt zuerst immer Betroffenheit auf. Aber es wird auch schnell versucht, zu relativieren. Ein beliebtes Argument ist, dass es damals auch die Prügelstrafe in der Schule gab und zuhause Ohrfeigen verteilt wurden. Das hatte aber bei Weitem nicht das Ausmaß, das es in diesen Einrichtungen annahm. Eigentlich ist es eine Verhohnepiepelung dessen, was wir erlebt haben. Wir mussten zusehen, wie Kinder bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt wurden. Es wurde auch immer wieder gesagt: Ich schlag Dich tot. Und diese Angst, dass die das wirklich können und auch tun, bleibt in einem Menschen immer drin.

WDR.de: Die Hotline ist Ihnen zu wenig. Welche Maßnahmen müssen Ihres Erachtens ergriffen werden?

Tschapek-Güntner: Die Schuld muss ohne Wenn und Aber akzeptiert werden. Das ist auch nach einem Jahr des Runden Tisches nicht geschehen. Noch immer leiden die Heimkinder unter der Stigmatisierung, die Bösen gewesen zu sein. Wir waren aber nicht die Bösen, wir waren dem System ausgeliefert, staatlichen und kirchlichen Trägerschaften, die ihre Verantwortung missbraucht haben. Abgesehen davon ist ganz wichtig, dass die Akten zentral gesichert werden. Die Betroffenen müssen schnelle Akteneinsicht erhalten, um Aufschluss über ihre Identität zu bekommen. Am Runden Tisch gab es zwar schon eine entsprechende Good-Will-Erklärung, aber es ist keine rechtlich bindende Anordnung ergangen. Insofern haben viele noch Schwierigkeiten, an ihre Akten zu kommen - und immer wieder verschiedene Behörden zu kontaktieren, die die Akten nicht herausgeben wollen, ist ein immenser Kraftakt.

Das Gespräch führte Sven Gantzkow.

Ab Mittwoch (13.01.2010) ist die bundesweite Hotline unter der Nummer 0180 4100 400 jeweils zu folgenden Zeiten erreichbar: Montag, Mittwoch und Freitag von neun bis 18 Uhr. Ein Anruf aus dem deutschen Festnetz kostet 20 Cent.