In der Nähe des Unglücksortes haben sich Menschen zum Trauern versammelt und Kerzen niedergelegt

Zwiegespräch mit den Verstorbenen

Bedürfnis gemeinsamen Trauerns

Stand: 01.08.2010, 02:00 Uhr

Blumen, Kerzenmeere, Abschiedsbriefe. Dass an Orten, wo ein Unglück wie das in Duisburg passiert ist, Menschen gemeinsam und öffentlich trauern, ist ein relativ neues Phänomen in Deutschland, sagt die Trauerethnologin Christine Aka.

Christine Aka ist Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Münster. Im Jahr 2007 veröffentlichte sie ein Buch über Unfallkreuze - jene Trauerorte am Straßenrand, die an tödlich Verunglückte erinnern. Oft geschmückt mit Kerzen, Briefen oder Fotos, stellen sie eine neue Form der Trauerkultur dar. Auch ein öffentliches Gemeinschaftstrauern, wie für die Toten der Loveparade in Duisburg, habe es vor einigen Jahrzehnten noch nicht gegeben, sagt die Trauerexpertin.

WDR.de: Bisher waren Tod und Trauer in der deutschen Kultur eher Tabuthemen. Dass nach tödlichen Ereignissen immer ausgiebiger öffentlich getrauert wird, scheint neu.

Portrait von Chirstine Aka

Ethnologin Christine Aka

Christine Aka: Bis Anfang der 1980er Jahre war der Umgang mit Trauer tatsächlich ein Tabuthema. Inzwischen hat sich eine ganz neue Trauerkultur entwickelt, gegen diese Verdrängung. Eine der ersten großen öffentlichen Trauerkundgebungen gab es 1986 in Schweden, als der damalige Ministerpräsident Olof Palm erschossen worden war. Plötzlich gingen die Menschen hin und legten Blumen, Kerzen und Zettel an den Tatort. Das entwickelte sich dann schnell weiter. Zum Beispiel nach dem Flugzeugunglück in Rammstein oder dem Zugunglück in Eschede gab es auch in Deutschland große, öffentliche Trauerbekundungen. Eine vollkommen neue Dimension der Massentrauer war dann die Reaktion auf den Tod des Fußballers Robert Enke, der sich im November 2009 das Leben nahm. Dass der Tod eines Einzelnen, der nicht durch eine Massenkatastrophe gestorben ist, so kultisch gewürdigt wird, hat es noch nicht gegeben.

WDR.de: Woher kommt das zunehmende Bedürfnis, Trauer öffentlich zu machen?

Aka: Viel hat sich verändert mit den ersten Aidstoten. Es entstanden Trauerrituale für Menschen, die außerhalb der Gesellschaft oder der Kirche gestanden hatten. Außerdem wollte man das Schicksal dieser Menschen öffentlich machen. Einerseits, um den einzelnen Verstorbenen zu würdigen, andererseits als Präventionsmaßnahme. In der Folge kam eine Flut von Trauerratgebern auf den Markt. Vorher hatte man die Trauer dem Dienstleistungsunternehmen Kirche überlassen. Irgendwann konnte man mit diesen kirchlichen Ritualen nicht mehr viel anfangen, sie waren nicht mehr individuell genug. Gleichzeitig verließen immer mehr Leute die Kirchen. Diese Leute stellten fest, dass sie aber trotzdem Abschiedsrituale brauchen. Dann hat man angefangen, sehr kreativ mit der persönlichen Trauer umzugehen. Heute kann man sogar Särge selber bemalen, eine ganz individuelle Grabgestaltung bekommen, seine Toten unter einem Baum bestatten - das alles gab es vor 20 Jahren noch nicht.

WDR.de: Ist es auch der Versuch, Bilder, die wir nicht aushalten, durch erträglichere zu ersetzen?

Aka: Auch. Der Mensch konnte den Tod wahrscheinlich noch nie aushalten. Blumenschmuck zum Beispiel, den man auf ein Grab legt, ist eine Form von Verschönerung des Todes, den man sonst nicht aushalten kann. Das ist in jeder Kultur und zu allen Zeiten ähnlich, ein urmenschliches Phänomen. Nirgends schaffen es die Menschen, den Tod in seiner Unverständlichkeit einfach stehen zu lassen. In Japan zum Beispiel gibt es eine ausgeprägte Kultur der Leichenaufbereitung: Die Körper der Toten werden aufwendig hergerichtet und verschönert. Auch in den USA werden Leichen stark geschminkt, um die Lebensfrische vermeintlich wieder herzustellen.

WDR.de: Sie haben ein Buch veröffentlicht über Unfallkreuze an Straßenrändern. Nicht nur an Landstraßen, auch in den Städten sieht man immer häufiger Blumen und Kerzen an Stellen, wo Menschen verunglückt sind. Welche Funktion haben diese Trauerstellen?

Aka: Meistens geht es darum, dass der dort Verunglückte nicht vergessen wird, dass das Gedenken an ihn überdauern soll. Oft ist es auch eine Schuldzuweisung. Man will damit zum Beispiel sagen: Hier hat jemand unser Kind getötet. Für viele Angehörige und Freunde ist es ein Ort, an den sie immer wieder gehen, um sich dort einzufühlen, um in ein Zwiegespräch mit ihren verunglückten Angehörigen zu kommen. Sie stellen sich da hin und unterhalten sich mit dem Toten. Viele fühlen, dass an diesem Ort die letzten Gedanken, das Letzte des Verunglückten übrig geblieben, irgendwie im Raum ist. Viele fühlen sich dort ihren Angehörigen näher als auf dem Friedhof, wo sie eher an die Leiche denken.

WDR.de: Spielt das auch in Duisburg ein Rolle?

Aka: Sicher. Die Menschen gehen an den Ort des Geschehens, weil sie das Gefühl haben, dort das "Warum" ganz massiv äußern zu können. Das "Warum" ist meist stark mit dem Ort verbunden: An der Straßenkreuzung sieht man die Ampel, man kann sehen, von wo das Auto wahrscheinlich gekommen ist. Auch in Duisburg sieht man den Tunnel, man sieht diese Treppe, die Plakate, an denen die Loveparade-Besucher hochgeklettert sind. Nirgends realisiert man das Unglück deutlicher als an diesem Ort. Oft sieht man an Unfallorten auch noch Spuren. Verletzungen an Bäumen zum Beispiel. Dadurch wird das Geschehene besonders real. Für viele ist das der geeignetste Ort, um zu versuchen zu verstehen. Möglicherweise aus dem Grund hat diese öffentliche Gemeinschaftstrauer zugenommen: Man will versuchen zu verstehen.

WDR.de: Auch in den Medien hat sich der Umgang mit Trauer verändert. Findet dort wirklich eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod statt?

Aka: Da gibt es Unterschiede. Nachdem der erste Presseartikel über mein Buch erschienen war, bekam ich unglaublich viele Anrufe von Fernsehredaktionen mit der Frage, wo sie Angehörige finden könnten, um die vor die Kamera zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass es dabei nicht um die Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Trauer ging, sondern um die Medienwirksamkeit von Elend. Natürlich gibt es positive Beispiele. Aber dieses Drängen danach, sofort mit Angehörigen zu sprechen, finde ich oft sehr, sehr schlimm. Da sehe ich eher Sensationsgeilheit.

WDR.de: Hat der Tod an Privatheit verloren?

Aka: Einerseits war Tod nie privat, denn der Tod ist alleine gar nicht zu verarbeiten. Dennoch ist der Umgang mit dem Tod und mit Trauer letztlich ganz individuell. Auch diese Massenevents können ja nicht die persönliche Trauer wegnehmen. Ich bezweifle auch, dass wirklich viele Angehörige bei dieser Trauerfeier für die Opfer der Loveparade anwesend waren. Möglicherweise waren da weniger die Angehörigen als einfach andere Mittrauernde. Denn letztendlich: Mit der Trauer bleibt man immer alleine.

Das Gespräch führte Nina Magoley.