Loveparade-Unglück 2010

Loveparade: Ein Gespräch mit Opfer-Anwalt Julius F. Reiter

"Eine Katastrophe nach der Katastrophe"

Stand: 21.07.2011, 06:00 Uhr

Schnelle Hilfe fordert Julius F. Reiter für seine 76 Mandanten, die allesamt Opfer der Loveparade 2010 sind. Im Interview, ein Jahr nach der Tragödie, spricht der Anwalt über Schuldfragen, Fortschritte und die Fehler der Polizei.

Von Jenna Günnewig

Gemeinsam mit dem ehemaligen Bundesinnenminister und Rechtsanwalt Gerhart Baum vertritt Julius F. Reiter 76 Opfer der Loveparade-Tragödie. Die Massenpanik in Duisburg am 24.07.2010 hat 21 jungen Menschen das Leben gekostet, hunderte Besucher wurden verletzt und schwer traumatisiert. Viele von ihnen sind seit dem Ereignis auf professionelle Hilfe angewiesen, haben im Alltag Probleme oder kommen in ihrem Beruf nicht mehr zurecht.

WDR.de: Wer zahlt für Trauma-Therapien, stationäre Behandlungen und Arbeitsausfälle der Loveparade-Opfer?

Julius F. Reiter: Wir machen für unsere Mandanten bei der Versicherung Ansprüche geltend. Zudem gibt es den Nothilfefonds der Landesregierung, der vorbildliche Arbeit leistet. Bei stationärer Behandlung erhalten Opfer pro Behandlungstag 500 Euro Schmerzensgeld und zwar bis zu 40 Tage lang. Der Fonds wurde von einer Million Euro auf 1,5 Millionen erhöht, bislang sind etwa 1,2 Millionen Euro davon abgerufen. Das Land hat dadurch schnelle Hilfe geleistet.

WDR.de: Wer kommt langfristig für die Schäden auf?

Reiter: Im Gegensatz zu einem Unfall im Autoverkehr, bei dem eine sogenannte Gefährdungshaftung gilt, ist bei einer Veranstaltung wie der Loveparade eine verschuldungsabhängige Haftung vorgesehen. Das heißt, bevor irgendwer haftet, muss das Verschulden rechtlich festgestellt werden. Da sich Veranstalter, Stadt und Land gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben, wird diese Schuldfrage juristisch geklärt. Dafür ist erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft zu Ende ermittelt und ein Gerichtsverfahren klärt, wer welche Schuld an der Katastrophe trägt. Dann ist erst rechtsicher, wer zu welchem Prozentsatz Schuld hat - und zahlt.

WDR.de: Komplexe Ermittlungen, ein kompliziertes Gerichtsverfahren - gibt es einen Weg, dass die Opfer schneller entschädigt werden?

Reiter: Wir haben die ganze Zeit gesagt, dass man diese juristische Schuldfrage nicht auf dem Rücken der Opfer austragen darf. Wichtig ist, dass die Betroffenen jetzt nach vorne gucken können und die Entschädigungsfrage von der juristischen Schuldfrage abgekoppelt wird. So wurde das auch bei der Concorde-Katastrophe gemacht, die ja erst im letzten Jahr, also zehn Jahre nach dem Flugzeug-Absturz, durch ein Urteil entschieden worden ist. Die Axa, als Versicherer des Veranstalters Lopavent, und der kommunale Versichererverband, als Versicherer der Stadt Duisburg, haben eine Vereinbarung getroffen, dass sie bereits jetzt in die Entschädigung eintreten. Deswegen können die Opfer nun auch Ansprüche gegenüber den Versicherern gelten machen. Das ist ein Etappenziel, das wir erreicht haben.

WDR.de: Inwiefern hilft dieses Etappenziel den Opfern?

Reiter: Es bringt schon was für die Opfer, weil einige Geld bekommen. Zwar nur kleine Hilfen, aber es ist auf jeden Fall schon mal ein erster Schritt. Die Geste dahinter ist auch wichtig. Laut Psychologen ist der Umstand, dass die Schuldfrage nicht geklärt ist und dass sich die Verantwortlichen gegenseitig die Schuld zuschieben, eine Katastrophe nach der Katastrophe. Die Opfer müssten Klarheit bekommen, was da vor einem Jahr passiert ist, damit sie abschließen und nach vorne gucken können.

WDR.de: Sie haben zudem die Einrichtung einer Stiftung gefordert. Ist diese durch die frühe Entschädigung obsolet geworden?

Reiter: Nein. Die Einführung der Stiftung fordern wir, weil wir Sorge haben, dass die Geschädigten, wenn der Medienrummel vorbei ist, vor verschlossener Tür stehen könnten. Weil man ihnen möglicherweise in fünf Jahren sagt: das posttraumatische Belastungssyndrom, das sich jetzt bei dir zeigt, rührt nicht von der Loveparade, sondern von einem anderen Ereignis. Da bekommen wir dann Kausalitätsprobleme, müssen versuchen zu beweisen, dass das posttraumatische Belastungssyndrom tatsächlich von der Loveparade ausgelöst wurde.

WDR.de: Wie hilft in einem solchen Fall eine Stiftung?

Reiter: Eine Stiftung könnte sich auf verbindliche Regeln einigen und darauf, dass auch in fünf Jahren noch für die Schäden geradegestanden wird. Es gibt ganze Bereiche, die nicht justiziabel sind. Wie wollen Sie denn rechtlich demjenigen helfen, dem in der Probezeit gekündigt worden ist. Die Beweggründe des Arbeitgebers können Sie nicht nachweisen. Was machen wir mit den Schülern, die in der Schule jetzt als Leistungsverweigerer abgestempelt werden und ihre Konzentrationsschwächen aufgrund der Ereignisse auf der Loveparade haben? Da sind viele Fälle, bei denen man andere Wege gehen muss, die nicht so einfach justiziabel sind. In einer Stiftung könnten die Opfer ihre Bedürfnisse formulieren. Zudem könnte in diese Stiftung auch Geld von anderen Trägern oder privaten Spendern fließen.

WDR.de: Ihr Kollege Gerhart Baum hat in einem Schreiben an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) auch das Land NRW in die Verantwortung genommen. Wo sieht ihre Kanzlei Verfehlungen?

Reiter: Der Innenminister Ralf Jäger (SPD) weist sämtliche Schuld der Polizei von sich. Nun gibt es ja eklatante Fakten aus einem Vorbericht der Staatsanwaltschaft, der an die Öffentlichkeit geraten ist. In dem kommt man zu einer anderen Bewertung. Ich bin der Meinung, dass hier alle Verantwortung tragen. Sowohl der Veranstalter als auch die Stadt, durch die Genehmigung, und die Polizei aufgrund der unzureichenden Organisation. Ich denke da an nicht ausreichend eingerichtete Vorrangschaltungen der Handys oder den ominösen Wachwechsel. Fehler, die aufseiten der Polizei gemacht worden sind.

WDR.de: Wann, glauben Sie, dass Sie die Loveparade-Unterlagen in die "Erledigt"-Schublade legen können?

Reiter: Das Ermittlungsverfahren wird möglicherweise dieses Jahr noch abgeschlossen. Dann gibt es erst eine Anklage, danach wird ein Gerichtsverfahren eröffnet. In diesem werden unsere Mandaten als Nebenkläger auftreten. Wie lange das Gerichtsverfahren dauert, hängt davon ab, welche Fakten bis dahin auf dem Tisch sind. Dann gibt es ein Urteil, bei dem es durchaus sein kann, dass dagegen noch Rechtsmittel eingelegt werden. Das kann dann noch mal ein oder zwei Jahre dauern.

WDR.de: Da summieren sich die Jahre.

Reiter: Es kommt auch darauf an, wie die Beteiligten sich verhalten. Wie die Entschädigung abläuft. Ich kann im Moment noch nicht einmal eine Bestandsaufnahme machen, wie bislang entschädigt wird, dafür ist es noch zu früh. Aber wahrscheinlich wird das Verfahren sehr, sehr lange dauern.

Das Gespräch führte Jenna Günnewig.