Heinz Decker

Zeitzeuge über Hitlers "Machtergreifung" (Teil 2)

"Ich habe den Schnäuzer ein Mal gesehen"

Stand: 30.01.2008, 06:00 Uhr

Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wird, ist der Kölner Heinz Decker 19 Jahre alt. Der Zeitzeuge erinnert sich im WDR.de-Interview an Auseinandersetzungen mit der Hitler-Jugend und die beginnende Judenverfolgung.

WDR.de: Ab 1930 haben Sie eine katholische Jugendgruppe geleitet. Wie hat sich die Machtübertragung auf Ihre Jugendarbeit ausgewirkt?

Heinz Decker: 1933 hatten wir 200 Jungen und ein Jahr später hatten wir nur noch 100. Die gingen zum Jungvolk. Das waren die Unter-14-Jährigen bei der HJ. Die haben uns sehr Mühe gemacht, die haben unsere Jungen geschlagen. Einmal wollte mir ein Uniformierter der HJ das Bändchen meiner Pfadfinderuniform abreißen, da habe ich dem eine geklatscht. Da war aber was los. Denn eine HJ-Uniform durften man nicht schlagen. Die Person ja, aber nicht die Uniform. Der Jungvolk-Führer, mit dem ich bei Klöckner-Humboldt-Deutz gearbeitet habe, wohnte gleich um die Ecke. Ich habe den auch zu Hause besucht, wir konnten es ganz gut miteinander. Aber politisch haben wird uns eigentlich nie auseinandergesetzt. Das lohnte sich nicht.

Wir marschierten sonntags nach der Messe mit Trommlerchor und Fanfaren durch unser Viertel. Da hat die HJ dann Gegenmärsche organisiert. Bei kirchlichen Großanlässen hatte die katholische Jugend im Dom Andacht, danach gab es draußen Schlägereien. Wir haben auf der Treppe gesungen und unten stand die HJ. Ab 1934 durften wir nicht mehr ins Zeltlager fahren. Da habe ich eine Fahrt in die Eifel organisiert, in die Klosterschule, wo ich früher im Internat war. 1938 wurde die katholische Jugend dann offiziell verboten.

WDR.de: Waren Sie einmal bei einem Auftritt Hitlers dabei?

Decker: Ich habe den Schnäuzer ein einziges Mal gesehen. Das war 1936 nach der so genannten Rheinland-Befreiung, als die Wehrmacht ins Rheinland einmarschiert ist und damit den Versailler Vertrag gebrochen hat. Jede Abteilung hatte bei Humboldt einen Volksempfänger, da hörten wir, dass die heute einmarschieren. Da bin ich um drei Uhr mit dem Fahrrad an den Bahnhof gefahren. Ich habe mein Fahrrad an eine Mauer gelehnt und mich auf den Sattel gestellt. Da habe ich ihn vorbeifahren sehen. Ich war nicht begeistert. Aber so ein Gegner, dass ich vor ihm ausgespuckt hätte, wenn er nicht so gefährlich gewesen wäre, war ich auch nicht. Aber wenn es um substanzielle Sachen ging, wurde man schon kritischer.

WDR.de: Welche Haltung hatten Sie gegenüber den Nazis?

Decker: Man musste, wie es in der Bibel heißt, schlau wie die Schlangen und arglos wie die Tauben sein. Man musste sehen, wie man durchkam - und immer aufpassen, was man dem Gegenüber sagte. Ich habe mich früh bei der Technischen Nothilfe angemeldet und deren Uniform getragen. Das war so etwas wie das Technische Hilfswerk heute. So habe ich mich immer sicher gefühlt. Da konnte mich keine SA und kein Arbeitgeber verpflichten, irgendwo anders mitzumachen; in die SS sowieso nicht, denn das war eine Sondertruppe.

WDR.de: Was haben Sie von der Judenverfolgung in der Anfangszeit des Nazi-Regimes bemerkt?

Decker: Gleich 1933 wurden die ersten jüdischen Geschäfte boykottiert: Deutsche, kauft nicht bei Juden, hieß es. Wir hatten eine Metzgerei-Kette in Köln, die hieß Katz-Rosenthal. Denen haben sie eine Maus in die Wurstmaschine getan. Das hat der "Westdeutsche Beobachter" natürlich aufgegriffen: "Es heißt jetzt nicht mehr Katz-Rosenthal, sondern Katz-Maus-Rosenthal." Mit solchen Methoden arbeiteten die Nazis.

SA ruft zum Boykott jüdischer Geschäfte auf

Ab April 1933: Boykott jüdischer Geschäfte

In unserer Umgebung wohnten einige Juden. Die kamen alle zum so genannten Arbeitseinsatz in den Osten - sie wurden vergast. Wenn die Nachgeborenen sagen, das hättet Ihr doch wissen müssen: Ich kann beide Hände hochheben und sagen, davon habe ich nichts gewusst. Es gab soviele Deutsche, die nicht Soldaten waren, die aber auch zur Arbeit im Ausland verpflichtet waren. Daher haben die Deutschen gesagt, die Juden müssen auch arbeiten. Und keiner hat angenommen, dass die von hier aus direkt ins Lager kamen. Nur einmal hat mir später, als ich Soldat war, ein Gefreiter von der Ostfront erzählt, dass dort 300 Kinder und Frauen erschossen worden seien.

WDR.de: Ihr Schwiegervater war Nikolaus Groß. Er wurde nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 als Widerstandskämpfer hingerichtet und von Papst Paul II. 2001 selig gesprochen. Haben Sie ihn gekannt?

Ich habe Nikolaus Groß zwar gekannt, über seinen ältesten Sohn. Aber ich wusste nicht, dass er einmal mein Schwiegervater werden wird. Ich habe meine Frau erst 1950 kennengelernt. Sie war fünfzehneinhalb Jahre jünger als ich. Groß war wie mein Vater in der KAB, der Katholischen Arbeiter-Bewegung, und wohnte auch im Agnesviertel. Er hat hier manchmal Vorträge gehalten. Ich habe später die Zeitungen gelesen, die er alle paar Wochen veröffentlicht hat: Das KAB-Organ "Westdeutsche Arbeiterzeitung". Der Name musste schon 1934 geändert werden in "Kettelerwacht". Das Monopol auf Arbeiterberzeichnungen hatte nun die NSDAP. Zu diesem Kürzel kursierte damals die Scherzfrage: "Was bedeutet NSDAP? Nur Solange Die Affen Parieren!"

Das Interview führte Dominik Reinle.

Zum ersten Teil: Wie sich Heinz Deckers Alltag nach der Machtübergabe verändert hat. [mehr]