Milliardengrab Atomkraft
Investitionsruinen im Wert von 360 Milliarden Euro
Stand: 09.06.2010, 10:41 Uhr
Ähnlich wie in Kalkar oder Hamm-Uentrop wurden weltweit über 100 Atomreaktoren gebaut, die keinen oder kaum Strom geliefert haben. Fehlinvestitionen von insgesamt rund 360 Milliarden Euro - belegt detailliert eine Recherche der WDR-Wirtschaftsredaktion.
Von Jürgen Döschner
"Ein vorzeitiger Ausstieg (aus der Atomenergie) würde Kapital in Milliardenhöhe vernichten – zu Lasten der Umwelt, der Volkswirtschaft und der Menschen in unserem Land." So steht es im so genannten "Energiepolitischen Appell" der Kernkraft-Befürworter. Doch die Atomindustrie selbst hat in den vergangenen Jahrzehnten durch Fehlinvestitionen Kapital in vermutlich sehr viel größerem Umfang "vernichtet". Denn in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere in den 70er und 80er Jahren, wurden weltweit über 100 Atomreaktoren gebaut, die keinen oder kaum Strom geliefert haben. Nach groben Schätzungen wurden so umgerechnet rund 360 Milliarden Euro (in Preisen von 2009) in den Sand gesetzt. Die ursprüngliche (Netto-)Leistung dieser Atomruinen entspricht mit 92.000 MW rund einem Viertel der zur Zeit am Netz befindlichen AKW weltweit.
Bislang gab es keine Statistik der atomaren Bauruinen. Viele von ihnen werden zum Beispiel in den offiziellen Listen der Internationalen Atomenergie Agentur (IAEA) schon seit Jahrzehnten als "im Bau" befindlich geführt. Andere, wie der "Superphoenix" in Frankreich oder der THTR 300 gelten schlicht als "endgültig stillgelegt", obwohl sie nur für kurze Zeit am Netz waren und kaum Strom geliefert haben. Verlässliche Zahlen, insbesondere über die Summen, die die Bauruinen jeweils verschlungen haben, sind in vielen Fällen nicht zugänglich. Der WDR hat alle verfügbaren Quellen und Statistiken zusammengeführt und ausgewertet. Die meisten Angaben basieren auf den Statistiken der IAEA. Die Kosten wurden zum Teil geschätzt. Das Ergebnis ist die erste vollständige globale Übersicht der atomaren Fehlinvestitionen.
Die meisten AKW-Ruinen entstanden in den 70er und 80er Jahren in den USA. Dort stehen insgesamt 37 solcher Milliardengräber, gefolgt von Russland mit 18 Reaktoren. Deutschland (einschließlich DDR) steht auf Rang drei der Geldvernichter. Hier stehen insgesamt neun Atom-Ruinen im Wert von 22 Milliarden Euro. Dazu gehören der "Schnelle Brüter" in Kalkar, der 5,4 Milliarden Euro verschlang und heute als Freizeitpark genutzt wird, sowie der THTR in Hamm-Uentrop, der laut IAEA-Statistik nur 322 Tage am Netz war. In der überwiegenden Zahl der Fälle waren finanzielle oder technische Probleme der Grund für die vorzeitige Stilllegung bzw. den Baustop. "Die Hersteller haben anfangs den finanziellen und technischen Aufwand der Atomenergie völlig unterschätzt," erklärt der Kernphysiker Klaus Traube gegenüber WDR.de.
Viele der vorzeitig abgeschalteten oder nicht zu Ende gebauten Atomreaktoren produzieren noch heute und auf Jahre hinaus Kosten in Millionenhöhe – sei es durch den Abriss oder, wie im Fall des THTR in Hamm, durch den so genannten "sicheren Einschluss". Diese Folgekosten sind in den meisten Fällen nicht in die Berechnung einbezogen – genauso wenig, wie die zahlreichen Forschungsreaktorruinen. Kein anderer einzelner Industriezweig hat damit jemals so viele und so teure Investitionsruinen hervorgebracht.