Anwerbeabkommen mit der Türkei

Zwei verschiedene Leben

Stand: 30.10.2011, 06:00 Uhr

Vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet. Auch die Eltern von Mehmet Gürcan Daimagüler kamen nach Almanya, um als Gastarbeiter Geld zu verdienen. Ein Gespräch mit dem früheren FDP-Politiker aus dem Siegerland über Integration und Zerrissenheit.

Heute leben in Deutschland 2,5 Millionen Menschen mit türkischer Herkunft. Auch die Mutter von Mehmet Gürcan Daimagüler kam Anfang der 60er Jahre aus Istanbul nach Deutschland, um in der Fabrik zu arbeiten. Der Vater folgte etwas später. Mehmet Gürcan Daimagüler ist das vierte von sechs Kindern, er wurde 1968 in Niederschelden bei Siegen in NRW geboren. Das ist seine Heimat. Geld verdient hat er schon als Junge mit Zeitung austragen. Doch der 43-Jährige hat das gemacht, was man eine steile Karriere nennt: Von der Hauptschule schaffte er es an die Universität, sogar nach Harvard und Yale. Er machte sein Jura-Examen, promovierte und war im FDP-Bundesvorstand, arbeitet heute als Rechtsanwalt in Berlin und hat seine Autobiographie geschrieben. Aus der FDP ist er 2008 ausgetreten: Seine Partei war die CDU in Hessen nicht angegangen, als diese Kriminalität von ausländischen Jugendlichen zum Wahlkampf-Thema machte.

WDR.de: Herr Daimagüler, Sie sind Deutscher mit türkischen Wurzeln. Fühlen Sie sich voll integriert – als Gleicher unter Gleichen?

Mehmet Gürcan Daimagüler: Wenn das bedeutet, gefühlsmäßig an allem teilzuhaben, dann nein. Der Blick von außen suggeriert zwar, dass es bei mir immer nach oben gegangen ist, aber das wird den Brüchen in meinem Leben nicht gerecht. Nach außen war ich der nette, erfolgreiche Deutsch-Türke, innerlich aber zerrissen und entwurzelt. Es war schwer, sich das einzugestehen.

WDR.de: Wie hat sich dieser Zwiespalt entwickelt?

Daimagüler: Angefangen hat es in der Schule. Ich wurde von deutschen Kindern wegen meiner Herkunft immer wieder ausgegrenzt. Der Vater eines Mitschülers, ein Arzt, hat ihm untersagt, mit Türken zu spielen. Als er das sagte, war ich dabei. Das war demütigend. Von anderen wurde ich angefeindet, musste mich durchboxen. Ich habe eine Fassade aufgebaut und von den Problemen in meiner Familie niemandem erzählt. Damit hatte ich zwei verschiedene Leben.

WDR.de: Was war bei Ihnen daheim problematisch?

Daimagüler: Das fing damit an, dass ich für meine Eltern übersetzen musste, weil sie nur schlecht Deutsch konnten. Dieses umgedrehte Rollenverhältnis und die damit verbundene Verantwortung sind für ein Kind nicht gesund. Gewalt spielte auch eine Rolle. Später bekam ich meine eigenen Aggressionen nicht immer in den Griff.

WDR.de: Was gibt Ihnen heute das Gefühl, außen vor zu stehen?

Daimagüler: Zum Beispiel Debatten – angezettelt etwa von Thilo Sarazzin  - über die Islamisierung Europas oder die Produktion von Kopftuchmädchen. Es erschreckt mich dabei vor allem, dass Bürger aus der Mitte der Gesellschaft da mitmachen und die Einteilung von "Ihr" und  "Wir" noch befeuern.

WDR.de: Die Diskussion um Integration wird häufig emotional geführt. Gibt es einen Weg, das neutraler auszutragen?

Daimagüler: Ja. Wir sollten die Angst vor der Vielfalt verlieren und sie als das betrachten, was sie ist: Eine zwingende Voraussetzung, um die Gesellschaft kulturell und ökonomisch weiterzuentwickeln. Zuwanderer sollten mehr als Chance, nicht als Problem gesehen werden. Aber dieses Einsehen kann man nicht per Gesetz verordnen. Soweit müssen die Menschen selbst kommen. Das gegenseitige Verständnis muss wachsen. Dann wird sich das auch in  Kleinigkeiten des Lebens widerspiegeln: Warum heißen heute zum Beispiel in Grundschulbüchern die Eltern Klaus und Sabine und nicht Ali und Sabine? Oder Sabine und Claudia?

WDR.de: Halten Sie die Integration für gescheitert?

Daimagüler: Keinesfalls. Viele Türken, ihre Kinder und Enkel haben sich integriert. Es gibt mittlerweile sogar große Vorbilder: Fußballer wie Mehmet Özil, Politiker wie Bilkay Öney, Schauspielerinnen wie Sibel Kekilli und jede Menge erfolgreicher Unternehmer.

WDR.de: Auf der anderen Seite haben es viele schwer. So haben überdurchschnittlich viele Jugendliche mit Migrationshintergrund weder einen Schulabschluss noch eine Lehrstelle.

Daimagüler: Das stimmt. Aber realistisch betrachtet gibt es erst seit gut zehn Jahren eine aktive Integrationspolitik - seitdem es das neue  Staatsbürgerschaftsrecht gibt, das es wesentlich leichter macht, Deutscher zu werden. In den ersten vier Jahrzehnten nach dem Anwerbeabkommen wurde Integration zwar gefordert, tatsächlich dafür aber rein gar nichts getan. Im Gegenteil: In den 80er Jahren etwa, als die Arbeitslosenquote stieg und die Türken als Arbeiter nicht mehr gefragt waren, wurde ihnen eine Rückkehrprämie angeboten. Dieses Signal, Deutschland zu verlassen, hat den Integrationswillen sicherlich nicht gefördert.

WDR.de: Aber manche der in Deutschland geborenen Kinder und Enkel der Einwanderer können noch nicht einmal richtig Deutsch.

Daimagüler: Die Sprache müssen sie natürlich lernen. Sprache und Bildung gehen Hand in Hand. Ohne eine gemeinsame Sprache ist es kaum möglich zueinander zu finden. Es ist auch nötig, im religiösen Bereich füreinander  Verständnis zu schaffen. Da kann auch der "Tag der offenen Moschee" eine Brücke sein.

WDR.de: Was muss die Politik konkret tun, um die Integration zu fördern?

Daimagüler: Wir brauchen eine zweite Bildungsoffensive für benachteiligte Kinder. In den 70er Jahren ist es gelungen, die Universitäten für Arbeiterkinder zu öffnen. Heute ist diese Gruppe dort zwar immer noch unterrepräsentiert, aber der Zugang ist einfacher geworden. Allerdings muss man bereits bei der frühkindlichen Erziehung ansetzten: Also mehr Ganztagskita- und Grundschulplätze schaffen. Außerdem sollten mehr Erzieher und Lehrer mit multikulturellem Hintergrund eingestellt werden: Sie können die Schwierigkeiten der Eltern besser nachvollziehen. Meine Eltern zum Beispiel kannten nicht den Unterschied zwischen Hauptschule und Gymnasium.

WDR.de: Trotzdem haben Sie eine sehr gute Ausbildung gehabt. Was ist bei Ihnen anders gelaufen?

Daimagüler: Häufig sind die Kleinigkeiten im Leben entscheidend: Bei uns im Haus wohnte eine Witwe, Oma Philippine nannten wir sie, die uns bei den Hausaufgaben geholfen hat. Mit ihr habe ich Deutsch gelernt. Dann habe ich die kostenlose Bücherei im Nachbardorf entdeckt und Bücher verschlungen. Meine Eltern konnten mir zwar nicht helfen, wussten aber um die Bedeutung der Bildung.

Das Gespräch führte Lisa von Prondzinski.