Wittener Tage für Kammermusik

Von Wien über Paris nach Köln: Neue Musik auf neuen Wegen

Stand: 22.04.2021, 13:36 Uhr

Schon seit 1969 steht der WDR den Wittener Tagen für neue Kammermusik als Partner zur Seite. Das Festivalprogramm am 23., 24. und 25. April wurde Corona-bedingt gestreamt und im Radio übertragen.

Das jährlich stattfindende Festival zählt weltweit zu den renommiertesten Foren für neue Musik und junge Komponist*innen, die hier die Möglichkeit haben, ihre Werke einem großen Publikum vorzustellen. Im letzten Jahr sorgte aber natürlich auch hier die Corona-Pandemie für gravierende Änderungen: Statt wie gewohnt öffentlich wurde das Festivalprogramm in technisch aufwendigen Schaltungen in Stream- und Radioübertragungen umgesetzt. Ein Konzept, das auch bei den diesjährigen Wittener Tagen am 23., 24. und 25. April zum Tragen kam. Die Festivalleitung lag, wie schon seit 1990, wieder in den Händen von Harry Vogt, der die Veranstaltung auch als verantwortlicher WDR-Redakteur betreut hat. Wir sprachen vor der Veranstaltung mit ihm.

Auf welche Schwierigkeiten stößt man, wenn man unter den momentanen Gegebenheiten solch ein Festival organisiert?

Harry Vogt: Die Entscheidung, wieder kein Präsenz-Festival mit Publikum auszurichten, trifft uns zwar hart, aber immerhin nicht so unvorbereitet wie letztes Jahr. Hatte im ersten Lockdown noch eine bleierne Schockstarre fast alles lahmgelegt, so ist jetzt wohl mehr möglich. Wir haben ja alle in den letzten Monaten dazu gelernt und manches geht mit einer Art von neuer Routine leichter von der Hand. Außerdem sind wir umgeben von Leuten, die das sich permanent ändernde Regelwerk der Corona-Schutzverordnungen sicher auslegen können und so auf virtuose Weise schnell Abstandsgebote und Hygienekonzepte generieren können. Doch der Total-Stillstand bleibt als Drohkulisse stets präsent und kann jede noch so gründliche Planung im Nu wieder zunichtemachen. Mühsam ist vor allem die Arbeit mit größeren Besetzungen, die unter den Abstandsauflagen nur dank ausgeklügelter Maß- und Nervenarbeit auf der Bühne unterzubringen sind.

Wie wurden diese aus der Not geborene Konzeption im letzten Jahr angenommen?

Harry Vogt: Die Resonanz war überwältigend. Und nachdem fast alle anderen Festivals im Frühjahr 2020 komplett abgesagt werden mussten, konnten wir immerhin mehr als zwei Drittel des Programms der Wittener Kammermusiktage realisieren und wie geplant an einem Wochenende senden. Das wurde vor allem für die freie Musikszene, um die es ja in Witten vor allem geht, als wichtiges Signal gewertet.

Die Musiker*innen spielten 2020 per Konferenzschaltungen auch über Ländergrenzen hinweg zusammen. Die Konzerte wurden so zu weltweit gespannten Ereignissen. Das ist faszinierend, aber auch mit einem hohen Aufwand verbunden.

Harry Vogt: Der technische Aufwand war – und ist es auch diesmal wieder – immens. Vor einem Jahr waren es vor allem die Reiserestriktionen, die verhinderten, dass die Ensembles gemeinsam spielen konnten. Deshalb haben wir die Gruppen vor Ort, also zum Beispiel in New York, Tel Aviv, Leipzig oder Frankfurt, eben da, wo die Musiker*innen zu Hause sind, aufgenommen. In einigen Fällen funktionierte dies nur durch aufwendige Schaltungen. So haben wir tatsächlich einige Stücke wie Quartette und Sextette über große Entfernungen aufgenommen. Manchmal simultan, aber auch nacheinander im Playback. Auch diesmal dürfen aufgrund der Abstandsregel und der zahlenmäßigen Begrenzung auf den Bühnen keine sinfonischen Besetzungen auftreten. Aber immerhin können wir jetzt mit größeren Ensembles und Kammerorchestern arbeiten.

Welche Möglichkeiten bieten sich der Neuen Musik generell durch die Einbindung digitaler Technik?

Harry Vogt: Einige Projekte wären ohne digitale Technik, wie zum Beispiel schnelle Datenwege, gar nicht realisierbar. So nutzen wir bei den zwei Werken von Brice Pauset und Klaus Lang, die jeweils Video- bzw. Lichtprojektionen mit Musik kombinieren, eine geradezu abenteuerliche Arbeitsteilung: Die Musik, die Pauset für sein Stück "Konzertkammer" geschrieben hat, wurde erst vor wenigen Tagen in Wien live im Studio eingespielt. Noch am selben Abend wurde diese Mehrspuraufnahme nach Paris übermittelt, wo im IRCAM, einem dafür spezialisierten Forschungsinstitut, noch Zuspielungen und Live-Elektronik hinzugefügt wurden. Und um sicherzugehen, dass die Übermittlung dieser gewaltigen Datenmenge auch wirklich klappt, haben wir im Vorfeld verschiedene Wege ausprobiert. Abschließend wird dann das fertige 5.1-Surround-File von Paris nach Köln transferiert, wo noch das Videomaterial, das wiederum in Berlin entstanden ist, montiert wird. Zwei Tage später wird es dann gesendet. Der Ton ist über Radio zu hören und das Bild läuft parallel dazu im Videostream. So wie das ganze Festival mit insgesamt zwölf Stunden Musik. 

Der WDR begleitet die Wittener Tage schon seit Beginn an. Wie wichtig ist seine Funktion als Förderer und Unterstützer neuer Musik und junger Komponist*innen gerade jetzt in der Zeit der Pandemie?

Harry Vogt: Der Gedanke der Förderung ist bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik zentral. Es war und ist noch immer ein Forum für junge Komponist*innen, die hier die Chance haben, entdeckt zu werden. Ein bekanntes Beispiel ist der ungarische Komponist György Kurtág, der in Witten die ersten Aufführungen seiner Werke im Westen erlebte und die ihn zu einem der angesehensten Komponisten der Gegenwart werden ließen.