Mehr Vielfalt für die Literatur

Stand: 26.01.2021, 15:04 Uhr

Die Literaturberichterstattung bei WDR 3 steht nicht zur Diskussion. Sie soll vielmehr vielfältiger und innovativer werden und nicht auf einem vereinzelten Sendeplatz am Morgen im immer gleichen Format ausgespielt werden. Wir haben mit WDR 3-Programmchef Matthias Kremin gesprochen.

Herr Kremin, unter anderem die Süddeutsche Zeitung schreibt heute, der WDR streiche sein Literaturangebot zusammen. Was ist da dran?

Matthias Kremin: Es ist schlichtweg Unsinn! Auslöser ist wohl eine unabgestimmte Mail an über 30 freie Mitarbeiter*innen, die den Eindruck vermittelt, als würde die Literaturkritik bei WDR 3 eingestellt.
Um es klar zu sagen: Die Literaturberichterstattung bei WDR 3 steht nicht zur Diskussion. Es geht lediglich darum, dass sie nicht auf einem vereinzelten Sendeplatz am Morgen im immer gleichen Format ausgespielt wird.
Literatur hat einen extrem hohen Stellenwert bei WDR 3. Das wird auch so bleiben. Wir wollen mehr Menschen mit Literatur und Debatten darüber erreichen.
Deshalb wird es auch in der WDR 3-Morgensendung ,Mosaik‘ nicht weniger Zeit für Literatur geben, vielmehr wird die Auseinandersetzung mit Literatur abwechslungsreicher, innovativer und vielfältiger. Es geht um die Öffnung von Literatur für verschiedene Formen der Darstellung zu unterschiedlichen Zeiten am Tag. Und ja es geht auch darum, dass wir Literatur künftig nicht nur um 6.45 senden und uns da mehr Flexibilität in der Programmgestaltung erlauben.

Was heißt das konkret? Welche Änderungen sind geplant?

Kremin: In der WDR 3-Sendung ,Mosaik‘ gibt es seit Jahren täglich um 6.45 Uhr eine Literaturrezension – fünf bis sechs Minuten lang. Wir haben uns das genauer angesehen und uns gefragt: Muss die Auseinandersetzung mit Literatur und Debatten jeden Tag in derselben Form und auf demselben Sendeplatz stattfinden? Dabei geht es uns auch darum, das starre Sendeschema zu lockern und das Thema Literatur noch mehr über den Tag zu verteilen.
So ist auch das morgendliche Gedicht eine schöne Gewohnheit – andererseits liegt die Vermutung nahe, dass die Hörer*innen morgens zwischen 6 und 6.30 Uhr – gerade in diesen Corona-Zeiten – vielleicht erst einmal wissen wollen, ob die Welt noch steht. Lyrik in WDR 3 kommt, wenn es zu kulturellen Anlässen und zur Stimmung des Tages passt.
Es geht hier nicht darum, Buchrezensionen abzuschaffen – vielmehr darum, die Auseinandersetzung mit Kultur abwechslungsreicher zu gestalten und damit die Bedürfnisse unserer Hörer*innen im Blick zu behalten.
Die Literaturredaktion des WDR entwickelt dazu zurzeit Ideen und Vorschläge, wie Literatur neben klassischen Rezensionen auch in neuen Formen vorkommen kann. In der Diskussion sind z.B. mehr Rezensionen im Dialog (Moderator*in und Rezensent*in) sowie Gespräche mit den Autor*innen.

Warum machen Sie das?

Kremin: Gerade die Zeiten von Corona, in denen die Kultur so sehr wie nie auch auf die tägliche Berichterstattung angewiesen ist, haben uns gezeigt, dass es wichtig ist, dass wir die morgendliche Sendezeit nicht nur mit Gedichten, klassischer Musik und Literaturrezensionen füllen, sondern auch flexibel etwa über neue Verordnungen für die Kulturschaffenden berichten. Deshalb haben wir ,Mosaik‘ die letzten Jahre ja schon mit stündlichen Kulturnachrichten gestärkt, und wollen es noch weiter für aktuelle Kulturbeiträge aus Literatur, Theater und Themen der freien Kulturszene öffnen. Es geht explizit nicht darum, Literatur im Gesamtprogramm von WDR 3 zu kürzen, das ist schlichtweg falsch.
Wir wollen Literatur in WDR 3 zeitgemäß vermitteln – immer mit der Perspektive, das Publikum noch besser als bisher mit Rezensionen und kritischen Debatten auch im nonlinearen Bereich zu erreichen und noch mehr Menschen für Literatur zu begeistern. Eine Beschränkung auf die lineare, einmalige Ausstrahlung in ,WDR 3 Mosaik‘ morgens um 6.45 Uhr erreicht leider nur ein sehr kleines Publikum. Es ist die wichtige Aufgabe einer Redaktion, sich permanent Gedanken zu machen, wie das Programm weiterentwickelt werden kann. Das Ergebnis deckt sich auch mit meinem Verständnis von einer modernen Kulturmorgensendung.

Wird Literatur auch weiterhin ausreichend Platz im Programm von WDR 3 / im WDR Hörfunk haben?

Kremin: Klares Ja – Literatur auf WDR 3 findet ja nicht nur in Buchbesprechungen bei Mosaik statt: Die Lesung am Samstag liefert den „Stoff“ pur: Sechzig Minuten reine Lesung – das findet man in der Radiolandschaft heutzutage nicht allzu oft. Dazu das Literaturmagazin „Gutenbergs Welt“ – nochmal eine Stunde mit Literaturkritik in Magazinform. Das wöchentliche „Kulturfeature“ gibt Raum für vertiefende Beschäftigung mit Literatur.
Außerdem hat der WDR in Corona-Zeiten sein Angebot an Primärlesungen deutlich ausgebaut: Unter dem Titel „Lies’ mir was vor!“ wurden von März bis August 2020 an vier Tagen in der Woche jeweils eine Stunde Klassiker der Weltliteratur als besonderes Lektüreangebot gesendet. Fortsetzung folgt.

Was genau ist online geplant?

Kremin: Wir entwickeln gerade weitere Ideen für Literaturangebote im Digitalen. So hat die Hörspiel-Redaktion jüngst – als Corona-Angebot – zusammen mit den Hörer*innen von WDR3 „Walden“ von Henry David Thoreau als Online-Lesung eingelesen. Außerdem gab es ungekürzte Podcast-Binge-Fortsetzungs-Lesungen von Klassikern der Weltliteratur wie „Jane Eyre“ oder „Stolz und Vorurteil“, die von den User*innen sehr positiv aufgenommen wurden. Fortsetzung folgt.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass der WDR über Bücher verschiedener Intellektueller wie Timothy Snyder, Karl Schlögel, Masha Gessen oder Anne Applebaum nicht mehr diskutieren wolle. Stimmt das?

Kremin: Nein! Über diese absurde Unterstellung haben wir uns auch sehr gewundert und den SZ-Autoren auch informiert, dass das falsch ist. Wir werden die Bandbreite der Themen- und Literaturauswahl eher erhöhen. Die Diskussion über Werke und Gedanken maßgeblicher Intellektueller findet auch weiterhin in WDR 3 und auch in WDR 5 statt. Ich würde das auch nicht nur als exklusive Aufgabe einer Literatur-Redaktion sehen. Und schon gar nicht auf eine Buchrezension um 6.45 Uhr am Morgen reduzieren wollen. Neben den gerade erwähnten Literatur- und Buchsendungen haben wir ja noch „Kultur am Mittag“, „Scala“, „Resonanzen“, „Gutenbergs Welt“ und das „Philosophische Radio“ im Angebot.

Abschließend noch eine Frage: Welche Rolle spielt Kultur überhaupt in Corona-Zeiten?

Kremin: Natürlich leidet auch die Berichterstattung über Kultur seit Monaten darunter, dass Kultur nicht stattfinden kann. Die Sorgen der Mitarbeiter*innen, wie lange das noch so geht, nimmt der WDR ernst und hat darauf reagiert.
Dennoch ist mir eine Kultur lieber, die Veränderungen mitgestaltet. Dass wir das können, zeigen wir mit dem „Hörspielspeicher“ oder der im Lockdown gegründeten „Kultur-Ambulanz“. Eine Kultur, die sich als „Gralshüter“ versteht, nur wenige Menschen erreicht und bei jeder Veränderung im Programm den Untergang beschwört, wird es auf Dauer schwer haben.