Mikrofon

WDR-Reporterin zeigt Interviewpartner an

Stand: 06.05.2020, 19:01 Uhr

Eine WDR-Reporterin wirft dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing (94) vor, sie im Anschluss an ein Interview sexuell belästigt zu haben. Sie hat Strafanzeige erstattet. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung. Für den Vorfall, der sich im Dezember 2018 in Frankreich zugetragen haben soll, gibt es Zeugen. Der WDR hält die Vorwürfe für glaubwürdig. Die französische Justiz hat Ermittlungen aufgenommen.

WDR-Reporterin Ann-Kathrin Stracke hat Ende 2018 zum 100. Geburtstag von Helmut Schmidt in Paris ein längeres Interview mit Valéry Giscard d'Estaing (94) geführt. Die Autorin wirft dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten vor, sie danach sexuell belästigt zu haben. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung. Er soll ihr mehrfach ans Gesäß gefasst haben. Ein Kameramann und eine Ton-Assistentin waren bei dem Vorfall anwesend. Der Kameramann ist in der Situation eingeschritten und bestätigt die Vorwürfe.

Neutrale Stelle dokumentierte den Fall

Der WDR ist seit Beginn an mit dem Vorgang befasst und hält die Vorwürfe für glaubwürdig. Die Kollegin hatte sich nach dem Vorfall direkt an ihre Redaktionsleitung gewandt. Danach wurden die Direktion und das Justiziariat eingebunden. Der WDR hat der Mitarbeiterin das Angebot gemacht, sich zusätzlich zu den internen Gesprächen auch einer externen neutralen Stelle anzuvertrauen. Davon hat sie Gebrauch gemacht. Die Kanzlei, die vom WDR beauftragt und bezahlt wurde, hatte die Aufgabe, die Kollegin zu beraten und die Vorwürfe sauber zu dokumentieren. Jörg Schönenborn, Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung: "Wichtig ist es in dieser Situation, dass wir die Kollegin unterstützen. Es verdient großen Respekt, wenn eine Mitarbeiterin den Mut hat, sich nach einem solch einschneidenden Erlebnis nicht nur an ihre Vorgesetzten im WDR, sondern auch an die Öffentlichkeit zu wenden."

WDR schreibt Beschwerdebrief

Nachdem Ann-Kathrin Stracke die Kanzlei gegenüber dem WDR von der Verschwiegenheitspflicht entbunden hatte, konnte der WDR aktiv werden. Am 12. Juni 2019 wurde ein Beschwerdebrief an das Büro von Valéry Giscard d'Estaing geschickt, in dem der Westdeutsche Rundfunk deutlich macht, dass das Verhalten des ehemaligen französischen Präsidenten nicht hinnehmbar ist. Die Bestätigung, dass der Brief eingegangen und der Inhalt zur Kenntnis genommen worden ist, hat den Westdeutschen Rundfunk am 11. Juli 2019 erreicht. Eine weitere Reaktion gab es darauf gegenüber dem WDR nicht. Ann-Kathrin Stracke hat am 10. März 2020 Strafanzeige erstattet. Der WDR hat die Mitarbeiterin hierbei begleitet und unterstützt. Der Sender kann in diesem Fall keine Anzeige erstatten, da dies aus juristischen Gründen nur durch Betroffene selbst erfolgen kann.

Im Rahmen der geplanten Berichterstattung hat der WDR am 28. April 2020 das Büro von Giscard d'Estaing erneut mit den Vorwürfen und auch mit der Strafanzeige konfrontiert und um eine Stellungnahme bis 30. April gebeten. Am 4. Mai ließ der Anwalt von Giscard d'Estaing mitteilen, das Büro des früheren Präsidenten habe keine Kenntnisse von der Strafanzeige und werde folglich keine Reaktion abgeben.

Die "Süddeutsche Zeitung", die den Vorgang nun öffentlich gemacht hat, zitiert den Bürochef wiederum mit der Aussage, es tue Giscard d'Estaing sehr leid, wenn die Vorwürfe stimmen sollten – der frühere Staatspräsident könne sich aber weder an die Situation noch an das Interview erinnern.

Am 11. Mai teilte die Pariser Staatsanwaltschaft mit, dass sie Ermittlungen aufgenommen habe. Dazu sagt Ann-Kathrin Stracke: „Ich freue mich zu hören, dass die Staatsanwaltschaft meine Strafanzeige registriert hat und beschlossen hat, eine Untersuchung einzuleiten. Selbstverständlich stehe ich der französischen Justiz im Rahmen dieser Untersuchung zur Verfügung.“

Süddeutsche Zeitung berichtet zuerst über den Fall

Auch wenn sich der WDR schon länger mit dem Vorfall befasst, hat der Sender sich bewusst entschieden, nicht als erstes in den eigenen Programmen zu berichten. Jörg Schönenborn, Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung: "Es ist gut, dass unabhängige Dritte mit völlig unverstelltem Blick auf die Sache schauen – gerade, wenn es sich um eine solch sensible Angelegenheit wie diese handelt."

Nach den #metoo-Vorfällen im Jahr 2018 hatte der WDR interne und externe Kontaktstellen sowie eine Beschwerdestelle eingerichtet, an die sich Betroffene wenden können. Zudem trat eine neue Dienstvereinbarung zum Schutz vor Mobbing, Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexueller Belästigung in Kraft. In einer zentralen Clearingstelle laufen alle Fäden sowohl bei Beschwerden wie auch bei Prävention und Vernetzung zusammen.