Harry Vogt

Mit Risiken und Nebenwirkungen – 70 Jahre "Musik der Zeit"

Stand: 01.10.2021, 16:00 Uhr

750 Uraufführungen und über 280 Deutsche Erstaufführungen – durch die 1951 ins Leben gerufene Konzertreihe „Musik der Zeit“ positioniert sich der WDR in den vergangenen sieben Jahrzehnten als größter Auftraggeber für Kompositionen zeitgenössischer Musik in Deutschland. Das wurde am 2. Oktober gebührend gefeiert.

Mit einem gemeinsamen getragenen Festkonzert vom WDR Sinfonieorchester und Rundfunkchor und Klanginstallationen im Kölner Funkhaus sowie einem künstlerischen Rundgang durch die Kölner Innenstadt wird der runde Geburtstag zelebriert. Wir haben Harry Vogt, seit 1998 künstlerischer Leiter von "Musik der Zeit", zum Begriff "Neue Musik", seiner Beziehung dazu und der Historie des WDR-Formats befragt.

Wie erklären Sie einer ahnungslosen Person, was "Neue Musik" ist?

Harry Vogt: Der Begriff steht für eine Kunstmusik, die im Geiste der „ernsten“, also klassischen Musik diese fortschreibt, erweitert und bricht – was sich hin und wieder auch mit populärer Musik kreuzt. Zentral ist die Idee des Aufbruchs, die Suche nach neuen Klängen und Ausdrucksformen. Das großgeschriebene N impliziert Innovatives, das naturgemäß nicht immer wirklich neu sein kann. Das Rad lässt sich nicht fortwährend neu erfinden. Daher fände ich das Adjektiv zeitgenössisch anstelle von neu stimmiger.

Was lieben Sie an „Neuer“ bzw. „zeitgenössischer Musik“?

Risiken und Nebenwirkungen, Unvorhersehbares, Überraschungen. Wenn gewohnte Hörhaltungen in Frage gestellt werden, wenn man wirklich zuhören muss.

Wann beziehungsweise womit fing das an?

Bei mir? Mit 17, als ich erstmals Maurizio Pollini mit Klaviermusik von Strawinsky, Webern und Boulez hörte. Und in der Historie? Um 1910, als so unterschiedliche Geister wie Schönberg und Strawinsky, Ives oder Varèse „Luft von anderem Planeten“ fühlten, als sie sich von den Fesseln der Tonalität lösten und ganz eigene Klangsprachen entwickelten.

Was hören Sie, wenn Sie keine „Neue Musik“ hören?

Vor allem Jazz und alte Musik, aber auch Musik ferner Kulturen, aus Japan oder Afrika. Die Leidenschaften wechseln schnell und heftig, momentan steht Leoš Janáček ziemlich weit oben.

70 Jahre „Musik der Zeit“ – was waren die drei absoluten Meilensteine?

Wieso waren? Unsere Meilensteine leben noch, sind nicht aus Stein. Aus meiner Sicht wären dies Stockhausens „Gesang der Jünglinge“, Zimmermanns „Dialoge“ und Georg Friedrich Haas' „in vain“.

Eine Persönlichkeit der Musikgeschichte, der Sie gerne mal begegnet wären?

Je nach meiner gerade aktuellen Vorliebe. Doch bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich bei aller Liebe zu deren Musik Bach oder Beethoven so gern treffen würde. Vielleicht dann doch lieber einen Allroundmusiker wie Bruno Maderna oder vermeintliche Außenseiter wie George Antheil und Erik Satie.

Was ist der offensichtlichste Unterschied zwischen der „Neuen Musik“ von 1951 und der von 2021?

Das stilistische Spektrum ist heute offener, vielfältiger denn je. Kehrseite der Medaille: die Rezeption ist viel gleichgültiger als früher; selbst Radikales wird oft freundlich geschluckt, löst keine Buhrufe oder Beben mehr aus.

Was war die tiefgreifendste Veränderung des Formats „Musik der Zeit“ unter Ihrer Ägide?

Festivalartige Schwerpunkte, Wochenenden, die einem Instrument wie Klavier oder Viola, einem „Thema“ wie „Licht“ oder „Doppelgänger“ gewidmet waren, in den unterschiedlichsten Größen und Besetzungen.

Was wäre die „Neue Musik“ ohne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?

Sie wäre vielleicht radikaler, in gewisser Weise freier, auch befreit von der Notwendigkeit „sendbar“ zu sein. Aber sie wäre auch ärmer an finanziellen Ressourcen.

Auf welchen Programmpunkt beim Jubiläumskonzert freuen Sie sich am meisten?

Da es sich ja nicht nur um ein Konzert handelt, sondern um eine Art Minifestival, das sich aus ganz verschiedenen Formen und Formaten fügt, bin ich doch sehr gespannt darauf, wie das Ganze ablaufen wird, vor allem wie das Herzstück des Abends, der Rundlauf mit Kurzprogrammen in sechs Räumen der Innenstadt, funktioniert.

Wenn Sie jetzt auch gespannt sind auf das Jubiläumsprogramm, dann besuchen Sie die Konzerte in Köln am Samstag (2.10.) oder hören Sie unser Kulturradio WDR 3: Am Samstag, 2.10. von 20 bis 23 Uhr mit dem Festkonzert und Live-Schalten ins WDR Funkhaus und in die Innenstadt. Und mit einer großen WDR 3 Radionacht von Mitternacht bis 6 Uhr morgens.