"Heute müssen wir die Gesellschaft verteidigen" sagt Jürgen Becker, der seit 1992 durch die Sendung führt. Christian Gottschalk sprach mit ihm und Redakteur Klaus Michael Heinz über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der ältesten noch existierenden Kabarettsendung im deutschen Fernsehen – und warum man heute nicht mehr gegen die Gesellschaft sein kann.
Herr Heinz, wie ist die Zusammenarbeit mit Jürgen Becker?
KLAUS MICHAEL HEINZ: Hervorragend. Ich kann ihm alles sagen, und er macht dann, was er will. Im Ernst: Wir haben jetzt schon etliche Jahre gemeinsam im Wartesaal verbracht, wir sind ein paar Jahre mit unserer »Baustelle Deutschland« durch NRW gezogen – von Kirche zu Moschee zu Synagoge – und wir bringen demnächst erneut gemeinsam ein Soloprogramm von Jürgen auf den Sender, erstmals im Ersten. Also auch im Ernst: hervorragend.
Herr Becker, grob geschätzt: Wie oft ist in den vergangenen 30 Jahren das Kabarett totgesagt worden?
JÜRGEN BECKER: Das habe ich nicht gezählt, aber letztendlich waren die Prognosen falsch. Mittlerweile haben die kabarettistischen Sendungen oft höhere Einschaltquoten als die informativen. Ich finde, man muss schon die Nachrichten gucken.
Ist es nicht sogar eine Voraussetzung, um Kabarett genießen zu können, dass man informiert ist?
BECKER: Das Kabarett kann Lust machen, sich für Politik zu interessieren. Ein Witz ist umgekehrte Zuwendung! Wir sagen dem Publikum damit: Die Sachen, mit denen wir uns in den "Mitternachtsspitzen" beschäftigen, sind es auch wert, sich damit zu befassen.
Wie suchen Sie die Gäste aus?
HEINZ: Einzig nach diesem Kriterium: Gäste müssen eine humanistisch-pazifistische Haltung haben und ihr jeweiliges Anliegen möglichst humorvoll vortragen können. Und da kriegen wir uns dann gemeinsam mit Wilfried Schmickler vor Freude kaum ein, wenn in den vergangenen Jahren häufiger als im Altertum und im Mittelalter der "Mitternachtsspitzen" solche Gäste Gästinnen sind.
Die "Mitternachtsspitzen", das ist die am längsten existierende Kabarettsendung im deutschsprachigen Fernsehen. Wie haben Sie das hinbekommen?
BECKER: Ich frage mich das manchmal auch. Als ich damals die Chance bekam, die Sendung von Richard Rogler zu übernehmen, war ich noch Präsident der Stunksitzung. Dadurch war ich es gewohnt, im Team zu arbeiten, basisdemokratisch zu entscheiden. So bin ich dann auch an die "Mitternachtsspitzen" rangegangen und habe ein Ensemble installiert. Zuerst habe ich den Wilfried Schmickler vorgeschlagen, damit er am Schluss die ganze Sendung zu Klump haut. Beim ersten Mal stand ich da übrigens ziemlich bedröppelt auf der Bühne, als Wilfried loslegte, und habe gedacht: Musst du dir das sagen lassen? Dabei war es doch meine Idee. Später kam Uwe Lyko dazu, der das Ruhrgebiet repräsentiert. Dann Susanne Pätzold. Das ist ein gutes Team. Einen Moderator kann man einfach so austauschen, aber ein ganzes Team, das ist schon ein enormes Potenzial an Kreativität. Deswegen hat die Sendung 30 Jahre überstanden.
HEINZ: Wir entwickeln die "Mitternachtsspitzen" quasi heimlich, still und leise weiter: Unser Set wurde und wird verändert, das Licht wurde und wird verändert, mal gibt es eine neue Rubrik, eine neue kleine Serie von Parodien auf Fernsehformate oder Fernsehfiguren, mal treten Gäste in mehreren Folgen hintereinander auf und setzen so neue Akzente.
Viel Fluktuation beim Personal gab es seit 1992 nicht. Neigen Sie zur Beständigkeit?
BECKER: Ja, extrem. Mir ist der Hype immer suspekt. Ich liebe den Flow. Deshalb baue ich mir die Dinge in meinem Leben immer so, dass ich sie lange machen kann, dass die Kräfte ausreichen, dass ich das nicht als Quälerei empfinde, sondern als Freude. Natürlich ist es Arbeit. Man muss fleißig sein. Das ist eine Grundvoraussetzung. Aber wenn die Freude verloren geht, dann merkt man das irgendwann auf der Bühne.
Tragen Fernsehkabarettisten nicht Eulen nach Athen, was ihr Publikum betrifft? Welche Aufgabe erfüllen die "Mitternachtsspitzen"?
BECKER: Als wir damit begonnen haben und auch zu Richard Roglers Zeiten, haben wir die Politiker hart rangenommen: Wir waren der Stachel im Fleisch der Bonner Republik. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Wir müssen uns von der Attitüde verabschieden, gegen die Gesellschaft zu sein. Jetzt müssen wir sie verteidigen. Wir werden als Lügenpresse beschimpft, die Kabarettisten genauso wie die Journalisten. Wir müssen jetzt für die Meinungsfreiheit kämpfen, die wir all die Jahre genossen haben. Wer Politiker kritisiert, sollte sehr, sehr genau sein. Denn zu denen, die schreien "Kannst du alle in einen Sack stecken und triffst immer die Richtigen", müssen wir eine klare Trennungslinie ziehen. Und wir sollten Respekt vor den Politikern haben, die eine schwierige Aufgabe bewältigen müssen. Seit der Flüchtlingskrise ist es mir extrem schwergefallen, Angela Merkel zu kritisieren. Ich habe es auch gemieden, um nicht denen nach dem Mund zu reden, die "Merkel muss weg" rufen. Wir müssen ein Fanal gegen die autoritären Regime und Kräfte setzen.
Als Sie angefangen haben, spielte das Internet noch keine große Rolle. Heute macht der erste aktuelle Seehofer-Witz die Runde, quasi bevor der einen Satz zu Ende gesprochen hat. Inwiefern haben die sozialen Netzwerke Ihre Arbeit verändert?
BECKER: Sie haben die Arbeit auf jeden Fall verändert. Ich achte darauf, dass ich, wenn ich Komik produziere, irgendetwas beleuchte, was vorher im Internet keine Beachtung gefunden hat: ein bisschen mehr an den Seiten schnüffeln, Sinnstränge freilegen, die nicht über Twitter verbreitet werden.
Oliver Welke hat seine Glückwünsche zum 25. Geburtstag mit dem Satz beendet: "In diesem Sinne auf die nächsten 25, hoffentlich mit deutlich mehr (als drei) Kanzlern." Die Hoffnung ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Kleiner Blick in die Zukunft: Wer ist zum 40. Jubiläum Kanzlerin?
BECKER: Vielleicht Annegret Kamp-Karrenbauer. Ich könnte mir vorstellen, dass Angela Merkel diese Frau noch vor Ablauf ihrer Legislaturperiode in Stellung bringt. Die hat bis jetzt noch keine Fehler gemacht und auf viele Fragen kluge Antworten gegeben. Also: Ich könnte mir vorstellen, dass Annegret Kamp- Karrenbauer sich dann als Kanzlerin die "Mitternachtsspitzen" anschaut.
Und wer moderiert die?
BECKER: Wer dann moderiert, das weiß ich natürlich nicht. Ich glaube, dass ich das nicht mehr bin, das soll ja keine Seniorensendung sein. Jüngere Menschen sollen das Konzept weitertragen. Es würde mich sehr freuen, wenn der WDR die "Mitternachtsspitzen" nicht aufgibt.
HEINZ: Eines Tages werden auch unsere immer noch Geistesblitze schleudernden Kabarettgötter Becker und Schmickler anderen Göttern Platz machen, wird der ewig junge Rentner Knebel sich mit Guste davon machen. Einzig Susanne Pätzold wird dank ihrer Jugend auf der Bühne auch noch 50 Jahre "Mitternachtsspitzen" feiern können.
Der Jubiläums-Abend
Das WDR Fernsehen widmet dem Kabarettklassiker den gesamten Abend. In der 90-minütigen Jubiläumsausgabe um 21.45 Uhr sind Lisa Eckhart, Carolin Kebekus, Tobias Mann, Omar Sarsam und Martin Zingsheim zu Gast. Mit ebenso witziger wie bissiger Unterhaltung ist bei den Revivals legendärer Rubriken aus der langen Historie der Sendung zu rechnen: Gastgeber Jürgen Becker gibt noch einmal den "Heimathirsch", gemeinsam mit Wilfried Schmickler lässt er die Spießbürger-Zwillinge "Spitz & Spitz" auferstehen, und in einer Neuauflage von "Loki & Smoky im Himmel" lebt eine der populärsten Parodien auf, die in den "Überschätzten Paaren der Weltgeschichte" ihre erfolgreiche Fortsetzung fand. Bevor es zum satirischen Showdown in der Jubiläumsausgabe kommt, lässt das WDR Fernsehen um 20.15 Uhr in "Das Beste aus 30 Jahren Mitternachtsspitzen" noch einmal die Highlights aus drei Jahrzehnten Revue passieren. Und ab 23.15 Uhr lernt der Zuschauer in den Porträts von "Mitternachtsspitzen"-Redakteur Klaus Michael Heinz die Kabarettisten Jürgen Becker, Wilfried Schmickler und Uwe Lyko alias Herbert Knebel einmal von einer ganz anderen, privaten Seite kennen.
Ein Text aus der aktuellen WDR print
- Sendehinweis: Das Beste aus 30 Jahren Mitternachtsspitzen | 8. September 2018, 20.15 - 21.45 Uhr