"Jüdische Feiertage sind wie Zartbitterschokolade

Stand: 14.05.2021, 11:23 Uhr

Wenn die Rede vom Judentum ist, werden die Gesichter oft ernst, beobachtet Gerald Beyrodt. Dabei ist es "eine lebensfrohe Religion", sagt der WDR-Religionsredakteur im Interview.

Im neuen Format "Freitagnacht Jews" spricht Daniel Donskoy mit seinen Gästen darüber, wie es Jüdinnen und Juden in Deutschland heute geht und was sie beschäftigt. Wie die fünfjährige Greta den Schabbat feiert, das beschreibt "Die Sendung mit dem Elefanten" (28.5., 6.55 Uhr, KiKA und jederzeit in der Elefanten-App). Die WDR 3-Sendung "Jüdisches Leben" blickt regelmäßig auf jüdische Feiertage, am 16. Mai geht es um das Fest Schawuot. Gerald Beyrodt, verantwortlicher WDR-Redakteur im Team Religion und selbst Jude findet: "Das Judentum ist eine lebensfrohe Religion“. Er hat jedoch oft den Eindruck, dass viele Menschen das Judentum per se für traurig halten. Nicht nur darüber haben wir mit ihm gesprochen, sondern auch über jüdische Feiertage und seine Hoffnung für das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland".

In der WDR 3-Sendung "Jüdisches Leben" stellen Sie jüdische Feiertage vor. Am Abend des 16. Mai beginnen Jüdinnen und Juden das Fest "Schawuot". Worum geht es dabei?

Gerald Beyrodt: Schawuot ist ein etwas vernachlässigtes jüdisches Fest, obwohl es um eine jüdische Kernbotschaft geht: die Gabe der Tora am Sinai. Die Tora sind die Fünf Bücher Mose. Es ist ein fröhlicher Feiertag. Klassischerweise macht man durch bis zum Morgengebet in Form einer "Lernnacht". Man liest und diskutiert die Tora.

In der Sendung werden wir dieses Fest vorstellen. Außerdem berichten wir über die Rentenprobleme von Jüdinnen und Juden aus der Ex-Sowjetunion, die als sogenannte Kontingentsflüchtlinge nach Deutschland kamen, und stellen die jüdische Werteinitiative aus Berlin vor. Gerade jetzt aktuell. Die richten sich unter anderem gegen israelbezogenen Antisemitismus.

Gibt es etwas, das jüdische Feiertage gemeinsam haben?

Beyrodt: Sie beginnen alle mit der Dämmerung. Das ist begründet in der Schöpfungsgeschichte, in der es heißt: "Es ward Abend, es ward Morgen. Ein Tag." Ich finde, jüdische Feiertage sind wie Zartbitterschokolade, denn auch freudige Feste haben stets etwas Trauriges in sich. Bei einer jüdischen Hochzeit beispielsweise wird ein Glas zertreten, um an die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Beginn der allgemeinen Zeitrechnung zu erinnern. Gleichzeitig enthält selbst der allertraurigste jüdische Feiertag Tischa be Aw, der Tag der Tempelzerstörung, hoffnungsfrohe Elemente. Auch beim Festjahr "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das wir dieses Jahr begehen, habe ich die Assoziation "bittersüß": Weil es einerseits eine Geschichte ist, in der es Erfolge gibt. Es gab Zeiten, in denen Jüdinnen und Juden gut im Gebiet des heutigen Deutschlands leben konnten.  Und es gab immer wieder Verfolgungen und Pogrome: zur Zeit der Kreuzzüge und der Pest. Noch bevor die Pest nach Köln kam, hat ein aufgehetzter Mob die jüdische Gemeinde ausgelöscht.

Der WDR begleitet das Festjahr in vielen Sendungen. Sie koordinieren diese Berichterstattung. Worum geht es Ihnen dabei?

Beyrodt: Es geht darum, von lebenden Jüdinnen und Juden zu erzählen und Schlaglichter in die Geschichte zu werfen. Aber das Festjahr ist nicht das Datum für die Erinnerung an die Shoa, dafür gibt es andere Daten. Es gibt eine jüdische Gegenwart! Das Judentum kann einen immer wieder überraschen – und genau das möchten wir mit dem Programm zum Festjahr.

Welche Hoffnung verbinden Sie mit dem Festjahr 1700? Was kann es bewirken?

Beyrodt: Es wird sicher nicht bewirken, dass es keinen Antisemitismus mehr gibt. Es kann bewirken, dass Juden und ihre Religion und Kultur bekannter und gesehen werden. Denn wenn Hassverbrechen geschehen, hat das immer etwas mit Nicht-Sehen oder verzerrter Wahrnehmung zu tun: Man blendet aus, wie andere Menschen leben. Das Festjahr kann zu einer geänderten Selbstwahrnehmung dieses Landes beitragen, nämlich dass es ein buntes und diverses Land ist und nicht ein homogenes.

Sie betonen in Interviews immer wieder das Lebensfrohe, Positive an der jüdischen Religion. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Beyrodt: Wegen der hängenden Mundwinkel, die ich bei den Menschen sehe, wenn vom Judentum die Rede ist! Natürlich gibt es geschichtliche Gründe dafür, aber mir ist wichtig, dass man das auseinanderhält. Die Verfolgungen sind Jüdinnen und Juden zugestoßen, trotzdem sind wir nicht per se traurig und unsere Religion auch nicht – auch wenn sie natürlich ihre traurigen Seiten hat. Das Judentum ist eine lebensfrohe Religion, in der es darum geht, das Leben zu genießen! Das Judentum kennt keinen Zölibat, überhaupt wenig Formen von Askese, man liebt gutes Essen, Sexualität ist wichtig, auch ein gewisser Wohlstand ist völlig in Ordnung.

Wie ist Ihr Eindruck: Wie wird die bisherige Berichterstattung über das Festjahr wahrgenommen?

Beyrodt: Ich habe den Eindruck, dass die Menschen das sehr interessiert zur Kenntnis nehmen. Das neue Format "Freitagnacht Jews" mit Daniel Donskoy zum Beispiel: Hier sind Juden nicht diejenigen, die sich erklären müssen, sondern sprechen ganz selbstverständlich vom Judentum und erreichen damit die junge Zielgruppe, das ist etwas Tolles! Das ist sehr gut angekommen, das sehen wir an den zahlreichen positiven Rückmeldungen in den sozialen Netzwerken und auch an sehr guten Rezensionen in den Medien. Ich freue mich auch, dass die Breitenprogramme wie WDR 2 viel über dieses Festjahr berichten, so sind im Talk-Format "Thadeusz" jüdische Menschen zu Gast.

Was hält das WDR-Programm zum Festjahr noch für das WDR-Publikum bereit?

Beyrodt: Über jüdische Kultur in Deutschland berichtet das Kulturfeature "Salon der Leerstellen" am 19. Juni in WDR 3, dazu gibt es einen Podcast mit der Philosophin Almut Bruckstein in ihrem Salon. Vom 26. Juni bis 18. September läuft das ARD-Radiofestival bei WDR 3 mit wirklich anregenden Gesprächen, zum Beispiel am 15. Juli mit Rachel Salamander, der Expertin in Deutschland zu jüdischer Literatur. Und natürlich die Fernsehdokumentation "Schalom und Hallo" am 25. Oktober in der ARD, in der die Schauspielerin Susan Sideropoulos durch Deutschland reist, um die jüdische Geschichte zu erkunden und zu sehen wie Jüdinnen und Juden heute leben. Das gesamte Programm findet man auch auf der Homepage juedischesleben.wdr.de.

Als wir uns verabredet haben, über Lebensfreude in der jüdischen Religion zu sprechen, gab es gerade keine Angriffe auf Synagogen. Es sind auch keine Raketen geflogen.

Beyrodt: Über jüdische Lebensfreude kann man auch heute sprechen. Denn Jüdinnen und Juden freuen sich trotz der Angriffe ihres Lebens. Im jüdischen Gebetbuch haben die zahlreichen Verfolgungen viele Spuren hinterlassen. Da ist von "unseren Verfolgern" und "unseren Widersachern und Feinden" die Rede, vor denen Gott beschützen solle. Das heißt: Jüdinnen und Juden wissen seit Jahrhunderten sehr genau, wie ernst das Leben sein kann und wie es ist, gehasst zu werden. Trotzdem sollen Jüdinnen und Juden jede Woche Schabbat feiern und sich des Lebens freuen.

Sie werden jetzt wieder in ernste Gesichter blicken oder hängende Mundwinkel sehen, Herr Beyrodt. Wie kommen Sie mit der aktuellen Situation klar?

Gerald Beyrodt: Ich lebe nicht in Israel. Mit geht es ganz o.k. Eine Freundin hat mir eine Nachricht aus Tel Aviv geschrieben, dass sie mit ihren beiden Kindern in einer Nacht sechs Mal in den Luftschutzraum musste. Das sind in  der Regel keine Luftschutzkeller, sondern Räume auf demselben Stockwerk. Das ist eine Lebensrealität vieler Israelis.

Und mit den ernsten Gesichtern meine ich die Gesichter von Menschen, die ernst sind, weil sie beim Judentum gleich an die Schoa denken. Dafür gibt es natürlich sehr gute Gründe. Nur: Das Judentum als solches ist keine traurige Religion. Traurig ist, dass es einen Antisemitismus gibt, und dass dem viele Jahrhunderte christlicher Judenfeindschaft vorausgehen.

Wie ordnen Sie die Angriffe auf Synagogen hier in NRW denn ein?

Beyrodt: Die Angriffe auf Synagogen sind ein Beleg dafür, dass es in Deutschland einen israelbezogenen Antisemitismus gibt, von wem auch immer er ausgeht.

 Der Journalist Ronen Steinke von der Süddeutschen Zeitung zeigt in seinem Buch "Terror gegen Juden", wie häufig Angriffe und Anschläge auf Synagogen verharmlost worden sind. Ich nehme mal ein Beispiel aus NRW und eines, bei dem wir die Täter kennen: Nach dem Anschlag auf die Wuppertaler Synagoge reichten den Richtern Bewährungsstrafen gegen die palästinensischen Täter. Der Anschlag sei nicht "per se antisemitisch" gewesen, fanden die Richter und haben ihn mit dem Nahostkonflikt entschuldigt. Das Urteil war im Jahr 2019. Mir ist damals die Spucke weggeblieben, dass ein Anschlag auf ein jüdisches Gotteshaus nicht antisemitisch sein soll, wenn der Nahostkonflikt eine Rolle spielt. Als ob nicht die Verbindung jüdisches Gotteshaus und Nahostkonflikt selbst antisemitisch wäre. Das ist nur eines von vielen Beispielen der Verharmlosung. Oft ist auch rechte Gewalt gegen Jüdinnen Juden verharmlost worden. Das muss aufhören. Ich kann nur hoffen, dass die Gesichter angesichts des israelbezogenen Antisemitismus in Deutschland ernst werden, und dass man das Problem endlich als Problem wahrnimmt. Ich bin mir da keineswegs sicher.