Erfolg ist kein Zufall - 30 Jahre "Menschen hautnah"

Stand: 19.04.2023, 19:22 Uhr

  • 30 Jahre "Menschen hautnah"
  • Vielfach ausgezeichnete Doku-Reihe
  • Redaktionsleiterin Britta Windhoff im Gespräch

Von Christine Schilha

Am 20. April 1993 lief die erste Doku unter dem Label "Menschen hautnah" im WDR Fernsehen - der Titel: "Erfolg ist kein Zufall“. 30 Jahre, rund 1.000 Dokus und 100 Preise später analysiert Redaktionsleiterin Britta Windhoff im Interview das Erfolgsrezept der Reihe.

Britta Windhoff

Wann ist ein Thema für "Menschen hautnah"?

Für uns ist es wichtig, dass eine Geschichte über das Einzelschicksal hinaus eine größere Bedeutung hat, dass die Menschen darin Fragen oder Antworten für ihr eigenes Leben finden. Wir wollen Filme machen, die auch nach Jahren noch relevant sind, weil ihr Thema ein universelles ist. Es geht fast immer um die großen Menschheitsthemen wie Liebe, Trauer, Angst, Wut, Verzweiflung, Hoffnung, Kampf … Die Kunst des Formats ist es, auch mit einer kleinen Geschichte eine Antwort auf eine große Frage zu geben.

Können sie dafür ein Beispiel nennen?

Eine Zeit lang wurden uns viele Geschichten angeboten, in denen beispielsweise beeinträchtigte Menschen besondere Dinge tun, etwa mit einem Bein auf den Mount Everest klettern oder so etwas. Ich habe mich dann gefragt: Was ist denn mit den beeinträchtigten Menschen, die zu Hause sind und ganz normale Dinge tun? Die müssen doch auch in unseren Programmen vorkommen. Es ist unser Job, auch deren Geschichten zu erzählen. Die mögen auf den ersten Blick nicht so spektakulär sein, aber bergen eine Schönheit, ein Würde, eine Antwort in sich, die wir erzählen wollen.

Britta Windhoff und Christine Schilha

"Wir wollen Filme machen, die auch nach Jahren noch relevant sind, weil ihr Thema ein universelles ist." Redaktionsleiterin Britta Windhoff im Interview mit Christine Schilha

Hat sich die Herangehensweise an die Themen in den vergangenen 30 Jahren verändert?

Meine Vorgängerin Ulrike Schweitzer wollte Geschichten auch über nicht privilegierte Menschen erzählen, ohne sie vorzuführen. Es ging darum, diese Geschichten nicht den Privaten zu überlassen, sie aber anders zu erzählen: auf Augenhöhe und handwerklich brillant. Das ist ein Qualitätsmerkmal, das wir noch immer erfüllen. Seitdem wir auf unserem Youtube-Kanal "WDR Doku" so erfolgreich sind, gibt es die Reaktionen auf die Filme direkt in den Kommentaren, und wir sehen, dass die Zuschauenden begeistert sind von dem respektvollen Umgang mit den Protagonist:innen. Und von der Nähe: Es gibt keine Reporter:innen im On, die zwischen den Protagonist:innen und den Zuschauenden stehen. Wir versuchen immer, auch visuell anders zu erzählen, wie etwa in einer kleinen Serie über Adoptiveltern, die zwar nur aus Interviews besteht, aber mit vier Kameras gedreht wurde, so dass die Erzählungen der verschiedenen Protagonist:innen zu einer Geschichte werden. Wir schauen seit zwei, drei Jahren verstärkt darauf, ob der Stoff das Potenzial hat, seriell erzählt zu werden. Wir haben mittlerweile bestimmt 15 dokumentarische Serien gemacht, viel experimentiert und viel dabei gelernt.

Wie kann sich in einer so schnelllebigen Zeit eine Reihe so lange halten?

Es ist auf jeden Fall wichtig, mit Leuten zu arbeiten, die für diese Doku-Reihe brennen. Und jetzt freue ich mich, Danke sagen zu dürfen. An die Redaktion WDR Doku, alles Menschen, die einen fantastischen Job machen. Die Produktion, super Leute!

Mein ganz ausdrücklicher Dank geht an unsere Redaktionsassistentin Sandra Becker, die einfach unglaublich gut, präzise, klug und engagiert ist. Ohne sie läuft echt nix. Und dann natürlich die Kreativen: Wir haben ein Team von Autor:innen/Regisseur:innen, Cutter:innen und Kameraleuten, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten. Ich kann gar nicht in einen Satz fassen, wie begeistert ich immer wieder von deren Kreativität und erzählerischem Können bin. Wie sie die Perlen heben, die es in jeder Geschichte gibt. Wie wertschätzend sie mit den Protagonisten umgehen. Wie groß ihre Begeisterung für Menschen und Themen ist und vor allem auch für eine immer wieder andere Art der Erzählung und Gestaltung. Es ist mir eine Ehre, Teil dieses Teams zu sein, klingt pathetisch, ist aber so!

Welche Filme bewegen das Publikum besonders?

Seit einem halben Jahr ist auf unserem YouTube-Kanal "WDR Doku" "Pauline, der Tod und das Leben" auf Platz 1: ein Dreiteiler über ein kleines Mädchen, das an einem Hirntumor stirbt. Die Autor:innen haben die Familie bis zum Tod des Kindes und darüber hinaus begleitet. Insgesamt haben mittlerweile allein auf YouTube über zehn Millionen Menschen geguckt. Oft sind es die leisen, oft auch erst mal unspektakulär daher kommende Filme, die eine enorme Zuschauerschaft beeindrucken.

Pauline, der Tod und das Leben

Die "Menschen hautnah"-Doku "Pauline, der Tod und das Leben" ist seit einem halben Jahr auf Platz 1 im WDR Doku-Kanal auf Youtube.

"Auf Station - Meine Zeit in der Psychiatrie" zum Beispiel erzählt von einem durchstrukturierten und manchmal langweiligen Alltag, die Serie hatte aber nach zwei Wochen in der Mediathek schon über 600.000 Abrufe. Es ist ein Thema, das viele Leute persönlich oder im näheren Umfeld betrifft, und "Menschen hautnah" widmet sich dem ohne Sensationsgeilheit.

Auf Station - Meine Zeit in der Psychiatrie

"Oft sind es die leisen, oft auch erst mal unspektakulär daher kommende Filme, die eine enorme Zuschauerschaft beeindrucken." Dazu zählt auch "Auf Station - Meine Zeit in der Psychiatrie".

Welchen Einfluss hatten die digitalen Medien auf "Menschen hautnah"?

Das Feedback auf Youtube feiert vor allem unsere Art und Weise des Erzählens - das freut mich besonders, da man uns anfangs immer wieder gesagt hat, für diese Plattform müssten wir die Filme anders machen. Das haben wir nicht gemacht, wir haben lediglich den Fernseh-Vorspann weggelassen. Trotzdem sind wir der erfolgreichste Youtube-Kanal des WDR. Es ist auch wichtig zu sehen, dass die Leute in den Kommentaren debattieren und sich austauschen. Wenn ich eine "Komplimentedusche" brauche, dann lese ich mir das durch. Instagram haben wir zeitweise genutzt, um ebenfalls unter dem Label "WDR Doku“ die Geschichten unserer Protagonist:innen weiterzuerzählen, weil es immer so viele Rückfragen gab.

Kommen Themen in den unterschiedlichen Ausspielkanälen unterschiedlich gut an?

In der Mediathek kommt es darauf an, ob die Filme prominent platziert sind oder ob man danach suchen muss. Manchmal laufen sie dann besser als im Fernsehen. Auf Youtube hängt es stark vom Thema ab, denn die Leute landen oft über eine thematische Suche bei uns. Hier schauen vor allem die 25- bis 34-Jährigen, also ein viel jüngeres Publikum als vor dem Fernseher. Wir hoffen, diese Leute, die in der Regel gar keine Berührung mehr mit dem Fernsehen haben, über Youtube in die Mediathek zu bringen, weil wir unsere eigene Plattform stärken wollen.

Am 20. April zeigt "Menschen hautnah" die neue Doku "Zirkus is nich - Dominik und die Suche nach der verlorenen Kindheit". Warum jetzt die Fortsetzung eines Films von 2007? Und warum ist das genau der richtige Film zum Jubiläum?

Der erste Film handelte von einem achtjährigen Jungen, der in ärmsten Verhältnissen und in einer schwierigen familiären Situation groß wird. Trotzdem leidet man nicht nur mit, sondern lässt ihm seine Würde. Deshalb gehörte "Zirkus is nich" zu den Dokus, zu denen immer wieder viele Nachfragen kamen, was aus dem Protagonisten geworden ist. Die Regisseurin Astrid Schult hat den Kontakt mit Dominik gehalten. Nachdem er nun schon einige Zeit volljährig ist, hat er sich bereiterklärt, seine Geschichte weiter zu erzählen, und der Film sollte ohnehin im Frühjahr laufen. Wir hätten unseren Geburtstag ja beinahe vergessen. Aber als klar war, dass wir ihn mit einer langen "Menschen hautnah"-Nacht begehen, dachten wir, das wäre ein guter Auftakt. Der Film hat einige Ingredienzen, die für uns typisch sind: lang dranbleiben, hinschauen, wo andere wegschauen, liebevoll, kreativ und auf Augenhöhe erzählen. Das ist das, was wir können und wofür wir brennen.

Zirkus is nich

Dominik im Alter von acht Jahren. Im zweiten Film, 17 Jahre später, erleben wir, was aus ihm geworden ist.