"Sie gehört seit Jahrzehnten zu den besten, mit beeindruckendem Hintergrundwissen und brillanter Sprachkenntnis ausgestatteten Journalistinnen und Journalisten, die von dort berichten", begründete die Jury ihre Entscheidung. Ein Sonderpreis ging in diesem Jahr an die Chefredakteurinnen von drei unabhängigen Online-Medien in der Ukraine: Sevgil Musajeva (Ukraina Pravda), Nataliya Gumenyuk (Digitalsender Hromadske) und Olga Rudenko (Kyiv Independent). Im Interview spricht Ina Ruck über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, ihre persönliche Beziehung zu Russland und ihr Verständnis von Journalismus.
In Russland darf man den Krieg noch immer nicht Krieg nennen. Was darf man als Korrespondent:in und wie sind Ihre Arbeitsbedingungen?
Ina Ruck: Kein Gesetz verbietet es, von Krieg zu sprechen. Aber es gibt eines, das sogenannte Diskreditierung der Armee verbietet – ohne diese genauer zu definieren. Russische Medien nennen den Krieg deshalb sicherheitshalber "Spezielle Militäroperation". Viele ausländische Journalistinnen und Journalisten, auch wir, waren anfangs unsicher, wie mit der Situation umzugehen ist. Mittlerweile nennen wir das Kind beim Namen, sprechen von Krieg oder Angriffskrieg. Allerdings hat der WDR wegen der neuen restriktiven Mediengesetze sehr früh entschieden, die Berichterstattung über das unmittelbare Kriegsgeschehen selbst nach Köln und Kiew zu verlagern. Aus Moskau berichten wir über die Auswirkungen des Krieges auf Russland, die Haltung der Leute zum Krieg, die politischen Entscheidungen.
Vor der Kamera wagt in Russland kaum jemand offen zu sprechen. Was sagen die Leute hinter vorgehaltener Hand? Wie ist die Stimmung im Land?
Ina Ruck: Wir bekommen tatsächlich viele Absagen bei Interviewanfragen. Teils aus Überzeugung – Deutschland ist hier wie alle EU-Staaten als "unfreundlicher Staat" deklariert, mit einem deutschen Sender reden manche Leute deshalb aus Prinzip nicht. Andere fürchten um ihre Reputation, wollen bei uns nicht im Programm auftauchen, weil ihnen das zum Beispiel beruflich schaden könnte. Und wieder andere haben schlicht Angst. Es steht gerade ein junger Mann vor Gericht, der bei einer Straßenumfrage eines ausländischen Senders offen über Butscha geredet und Putin scharf kritisiert hat. Ihm drohen bis zu zehn Jahren Haft. Verständlich, dass da kaum jemand noch reden will. Mein Eindruck ist dennoch, dass eine Mehrheit im Land hinter Putin und hinter dem Krieg steht. Aber es gibt auch die anderen. Neulich hat eine Frau, als sie unser Mikrofon sah, leise im Vorbeigehen gesagt: "Danke, dass Sie noch hier sind und berichten."
Verlorene Freundschaften und lange Wege
Durch den Krieg und die Sanktionen hat sich vermutlich auch das Leben in Russland für Sie verändert. Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie im Alltag konfrontiert?
Ina Ruck: Es ist einsamer geworden. Einige unserer russischen Freundinnen und Freunde sind jetzt im Ausland, eine enge Freundin etwa ist gleich nach Kriegsbeginn nach Kasachstan gezogen, sie ist entsetzt über den Krieg und sagt, Russland könne nicht mehr ihre Heimat sein. Andere, auch eine gute Freundin, habe ich „an die Propaganda verloren“ – wir können nicht mehr ohne Streit miteinander reden, der Kontakt beschränkt sich auf eine WhatsApp zum Geburtstag oder zu Feiertagen. Durch die Sanktionen ist das Reisen erschwert, es gibt ja keine Direktflüge mehr in die EU. War man früher nach dreieinhalb Stunden in Moskau, so geht jetzt kaum noch etwas unter 14 Stunden. Man kann über Istanbul fliegen – mit zeitraubendem Umstieg, großzügigem Umfliegen des Kriegsgebiets und riesigem ökologischen Fußabdruck. Oder man nimmt den Landweg: Mit dem Zug nach Sankt Petersburg, von dort mit dem Bus über einen der wenigen offenen Grenzübergänge nach Helsinki oder Tallinn und dann weiter mit Fähre, Zug oder Flieger.
Ina Ruck: "Ich wollte immer Journalistin werden, hab schon als Kind mit meinem damals topmodernen Kassettenrecorder die Nachbarn interviewt."
Das Studio Moskau ist für das riesige Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zuständig. Ist es neben dem vorherrschenden Thema Ukraine-Krieg noch möglich den Blick auf anderes zu richten?
Ina Ruck: Ja, und das ist wichtiger denn je. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbajdschan etwa mag uns weit weg erscheinen. Aber er ist symptomatisch für eine größere Situation, in der demokratische, offene Gesellschaften immer stärker bedroht werden durch Nachbarn mit autokratischem oder autoritärem System. Russlands riesiger Bündnispartner Kasachstan zeigt vorsichtige Absetzbewegungen von Moskau, der kleine Staat Moldau hat gemeinsam mit der Ukraine nun die EU-Beitrittsperspektive, auf die Georgien noch wartet – all das ist wichtig und berichtenswert. Auch Reisen innerhalb Russlands sind wichtig. Man muss die mancherorts langen Reihen frischer Soldatengräber auf den Friedhöfen der Provinz sehen. Man muss mit den Menschen weit weg vom Zentrum reden, um zu verstehen, was hier passiert. Ich reise, so oft ich kann – leider nicht oft genug.
Guter Journalismus braucht Haltung
Sie haben Slawistik, Politikwissenschaft und Publizistik studiert – wollten Sie schon immer Korrespondentin werden? Und: Woher kommt das Interesse an Russland?
Ina Ruck: Ich wollte immer Journalistin werden, hab schon als Kind mit meinem damals topmodernen Kassettenrecorder die Nachbarn interviewt. Das Interesse an Russland kam im Gymnasium: Ich bin in Unna zur Schule gegangen, wegen des nahen Durchgangslagers für Spätaussiedler aus der Sowjetunion hatten wir viele russischsprachige Kinder an der Schule. Und um ihnen nicht noch eine weitere neue Sprache aufzubürden, stellte man als zweite Fremdsprache Russisch zur Wahl. Ich fand das viel interessanter als Französisch. Später habe ich in Moskau studiert und Russland lange als eine Art zweite Heimat angesehen. Doch dieses Heimatgefühl ist weg – spätestens seit Beginn des Krieges im Donbas.
"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache." Was bedeutet das berühmte Zitat von Hanns Joachim Friedrichs und Motto des nach ihm benannten Preises für Sie?
Ina Ruck: Sehr viel, es ist wie eine Art Kompass. Allerdings verstehe ich es nicht als Aufforderung zur Äquidistanz, zu einem "He said, she said-Journalismus". Guter Journalismus braucht Haltung – und mit Haltung meine ich das journalistische Selbstverständnis, den Fakten, der Recherche, der Ehrlichkeit verpflichtet zu sein. Haltung bedeutet auch, Quellen zu gewichten. Jemand hat das mal so beschrieben: Wenn der eine sagt, "die Erde ist eine Scheibe" und die andere, "nein, sie ist rund", dann heißt das nicht, dass die Form der Erde umstritten ist. Sorgfältiger Journalismus muss sich nicht gemein machen mit einer Sache, er lässt aufgrund der Fakten und Recherchen erkennen, was gut ist und was böse, wer der Aggressor ist und wer das Opfer. Und dass die Erde rund ist.