Gastbeitrag von WDR-Intendant Tom Buhrow in der FAZ

Wo die ARD im Jahr 2030 steht

Stand: 12.04.2021, 12:00 Uhr

  • Unsere Gesellschaft steht vor einer Dekade digitaler Transformation
  • ARD auf dem Weg zum non-linearen Content-Netzwerk
  • Öffentlich-Rechtliche werden eine Mediathek für alle bieten

Von Tom Buhrow

Vor einigen Tagen lief ein vielsagender Bericht im Deutschlandfunk: Bei einem Autozulieferer in Stuttgart wurde gestreikt. Nicht nur für höheren Lohn, wie ein Mitarbeiter deutlich machte, sondern aus Zukunftsangst. Der Mitarbeiter hatte das Gefühl, seine Firma habe keine Antworten auf den Paradigmenwechsel vom Verbrennungsmotor hin zur Elektromobilität. Dabei, berichtete die Reporterin, hätten bereits zwei Drittel der Produktion mit Elektromobilität und alternativen Antrieben zu tun. Der Wandel ging ihm aber nicht schnell genug.

Unzählige Unternehmen und Organisationen stecken in ähnlich massiven Veränderungsprozessen. Sie müssen noch das alte Geschäft bedienen und zugleich das neue Geschäft aufbauen. Nicht selten wird der richtige Zeitpunkt verpasst, und am Ende bleibt nur die Erinnerung. Kodak, Nokia oder Quelle sind mahnende Beispiele. Diese Transformation kennt auch die Medienbranche nur zu gut. Das Alte sind unsere linearen Angebote - das klassische Radio und Fernsehen. Das Neue sind die digitalen, non- linearen Angebote.

Unsere Gesellschaft steht vor einer Dekade digitaler Transformation

Die Rahmenbedingungen dafür sind allerdings ausbaufähig. Finanzminister Olaf Scholz sagte kürzlich in einem Interview: Bis 2030 solle bei jedem Haushalt in Deutschland ein Internetanschluss mit einer Geschwindigkeit von mindestens einem Gigabit pro Sekunde anliegen. Das deckt sich mit den Vorstellungen der EU-Kommission, die soeben ihren "Digitalen Kompass für 2030" vorgestellt hat. Falls diesen Worten Taten folgen, steht uns eine digitale Dekade bevor, mit grundlegenden Veränderungen in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft.

Am Anfang dieses digitalen Jahrzehnts steht auch der öffentlich- rechtliche Rundfunk vor richtungsweisenden Entscheidungen. Vor dem Bundesverfassungsgericht geht es um die Höhe des Rundfunkbeitrags. Zum anderen wollen die Ministerpräsidentinnen und - präsidenten bald erste Reformvorschläge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf dem Tisch haben. Nachdem die Rundfunkkommission vor kurzem ihren Reform-Fahrplan verabschiedet hat, erlaube ich mir als WDR-Intendant einige Gedanken dazu.

Die ARD ist auf dem Weg zum non-linearen Content-Netzwerk

Meine Kollegin, die MDR-Intendantin Karola Wille, hat bereits 2017 als damalige ARD-Vorsitzende den "crossmedialen föderalen Medienverbund" skizziert. Daran knüpfte sie an, als sie nun die Weiterentwicklung der ARD zu einem "gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk" vorschlug. Die für Rundfunkpolitik federführende Medienstaatssekretärin von Rheinland- Pfalz, Heike Raab, griff dies auf und schlug ein öffentlich- rechtliches "Content- Netzwerk" vor, das sich am Erfolg der jungen Marke funk orientieren könne. funk ist tatsächlich ein positives Kapitel der jüngeren Rundfunkgeschichte. Die Politik hatte den Mut, ein Konzept des ehemaligen SWR- Intendanten Peter Boudgoust zu unterstützen, das ein adäquates, non- lineares Angebot für junge Nutzerinnen und Nutzer vorsah. Die notwendigen Ressourcen wurden durch interne Umschichtungen und die Abschaltung der linearen Spartensender Eins Plus und ZDF Kultur bereitgestellt.

Wir Verantwortliche in der ARD wissen schon lange, dass es für die notwendige Transformation nicht mehr Geld gibt. Deshalb muss sich jeder, der die Reformdiskussion über unseren Auftrag ernst nimmt, ehrlich machen: Will er oder sie eine Modernisierung des öffentlich- rechtlichen Rundfunks oder nur Kosten senken? Wenn es um Letzteres geht, ließe sich der Rundfunkbeitrag von Kosten bereinigen, die mit dem öffentlich- rechtlichen Rundfunk nichts zu tun haben.

Bisher geht es zum Beispiel zu Lasten der Beitragszahler und - zahlerinnen, wenn finanziell schwächer Gestellte den Rundfunkbeitrag nicht aufbringen können. Ist das nicht eigentlich Aufgabe der Sozialkassen? Und die Landesmedienanstalten sind vorrangig für die Aufsicht über kommerzielle Anbieter zuständig. Diese Umwidmung von Mitteln aus den öffentlich-rechtlichen Budgets ist kein deutsches Phänomen. In Brüssel nennt man es "topslicing".

In Deutschland kosten die beiden Beispiele zusammen monatlich jeden Beitragszahler mehr als 1,60 Euro. Ich will hier gar nicht das Modell der Beitragsbefreiungen und schon gar nicht die Arbeit der Landesmedienanstalten in Zweifel ziehen, sondern lediglich deutlich machen, dass dem Beitragszahler im Laufe der Jahrzehnte einige Kosten aufgebürdet wurden.

Natürlich ist es einfacher, das Klischee der angeblich reformunwilligen öffentlich-rechtlichen Sender zu pflegen, als mühevoll die einzelnen Aspekte und vor allem Folgen von Kürzungen zu deklinieren.

Beide Seiten - diejenigen, die jede Veränderung ablehnen, und diejenigen, die sie lauthals fordern, ohne konkret zu werden - arbeiten sich an diesem "Ist-Zustand" ab: an der gegenwärtigen Zahl von Spartenkanälen, Radiosendern und Orchestern, Ratgebersendungen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ich schlage vor, die Reformdebatte nicht am Ist- Zustand auszurichten, sondern an einem Zukunftsbild. Also nicht zu fragen: "Was passt mir am gegenwärtigen System nicht?", sondern: "Was erwartet die Gesellschaft in Zukunft vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk?" Wir starten im Mai einen ARD- Zukunftsdialog, in dem wir die Bürgerinnen und Bürger selbst dazu fragen.

Kennzahlen aus Medien- und Zukunftsforschung weisen darauf hin, dass Menschen im Jahr 2030 Medien vor allem auf Abruf nutzen. Die sogenannte non-lineare Nutzung wird die "klassische" lineare Nutzung überholt haben. Ein Blick in die Zukunft kann daher meiner Meinung nach die Argumente in der Debatte um den richtigen Weg schärfen.

Das deutsche Mediensystem wird im Jahr 2030 Stabilität verloren haben

Weitere Zeitungsverlage werden 2030 fusioniert oder sich in redaktionellen Netzwerken zusammengeschlossen haben. Dabei werden Verlage und öffentlich-rechtliche Sender viel mehr Gemeinsamkeiten entdeckt haben als noch im Jahr 2021, Bündnisse von Qualitätsmedien werden unideologisch eingegangen. Die großen, kapitalstarken Konzerne haben dann ihre Angebote bis auf die nationale Ebene ausgeweitet. Netflix & Co verfügen dank der internationalen Wertschöpfung über enorm wachsende Mittel. Außerdem werden zum Beispiel Amazon, Google und Facebook den digitalen Alltag - und die Freiheit - der Menschen mit ihren Produkten und Regeln maßgeblich beeinflussen.

Die ARD bietet im Jahr 2030 eine zeitgemäße mediale Heimat

Die ARD hat sich entschieden, noch konsequenter ihren "Heimvorteil" zu nutzen und so dem Publikum Mehrwert anzubieten. Die ARD ist deshalb 2030 noch stärker vor Ort in den Regionen und kooperiert dort vermehrt mit Einrichtungen aus Wissenschaft, Kultur und Bildung sowie privaten Medienhäusern. Sie bietet unabhängige und überparteiliche Angebote, die journalistischen Grundsätzen verpflichtet sind. Das ist gesund für die Gesellschaft und wichtig für die Demokratie.

Dabei arbeitet sie längst weniger aus großen Landesfunkhäusern oder Studios, sondern mobil, aus kleinen Büros. Darüber hinaus haben fiktive und unterhaltende Stoffe starken Bezug zum Lebensgefühl in Deutschland, in den Regionen und in Europa. Die Marke ARD und jede Landesrundfunkanstalt übernehmen die Rolle eines Gütesiegels und Qualitätsversprechens.

Kein anderer Medienanbieter spiegelt bundesweit die Vielfalt aller Regionen Deutschlands so wider wie das föderale Netzwerk ARD mit seinen Standorten Ost und West. Diesen Markenkern werden wir gestärkt haben. Hier sehe ich große Übereinstimmungen mit der Rundfunkkommission, die gerade genau dieses Thema auf ihre Agenda gesetzt hat.

Die Öffentlich-Rechtlichen werden eine Mediathek für alle bieten

Am Ende des Jahrzehnts bedient der öffentlich- rechtliche Rundfunk achtzig Millionen Programmchefinnen und - chefs mit hochwertigen Inhalten. Der Megatrend der Individualisierung wird sich umfassend durchsetzen. Abgesehen von dramatischen Ereignissen und einzelnen Live- Events, wird kein mediales Ereignis mehr weite Teile der Bevölkerung binden. Die Menschen holen sich, was sie wollen und wann sie es wollen. Und zwar aus einer einzigen großen öffentlich-rechtlichen Mediathek.

Ich wiederhole meine bereits 2020 vorgetragene Überzeugung, dass dies aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer Sinn macht. Spartenkanäle im linearen Fernsehen sind 2030 größtenteils Geschichte und werden in dieser Mediathek aufgegangen sein. Auch der Hörfunk steht mitten in einem umfassenden Wandel.

Audioangebote werden ins Netz wandern und die UKW-Welt verlassen

Für die bequeme und technisch ausgereifte UKW-Verbreitung werden Politik und Sender bis 2030 eine Ersatzlösung finden. Wenn ich Sender sage, meine ich hier alle: öffentlich- rechtliche und kommerzielle. Ich kann den Aussagen meiner Kollegin und rbb- Intendantin Patricia Schlesinger im Medienausschuss Berlins nur beipflichten, dass sie UKW bis Mitte des Jahrzehnts für gesetzt halte, aber in sieben bis zehn Jahren müsse man überlegen, ob man noch lineare Hörfunkwellen in der heutigen Form brauche.

Bisher belauern sich öffentlich- rechtliche und kommerzielle Sender und warten nur darauf, dass der jeweils andere den Ausstieg aus UKW beschließt oder aufgezwungen bekommt. Die Folge: Wir investieren sowohl in die Erhaltung von UKW als auch den Ausbau von DAB+ und in die Verbreitung übers Internet. Diesen gordischen Knoten zu durchschlagen, das geht nur wenn klare Rahmenbedingungen für alle Marktteilnehmer verabredet werden. Wir würden damit europäischen Nachbarn folgen, die wie die Schweiz den Ausstieg aus UKW bereits beschlossen haben. UKW wäre dann nur noch eine Havarietechnik für Krisenfälle.

Durch die neue grenzenlose Technik müssten nicht Dutzende regionale Hörfunkwellen unterhalten werden. Weitgehende Kooperationen unter den Landessendern und mit dem Deutschlandradio wären möglich. Bisher ist dem ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben.

Ein entwicklungsoffener gesetzlicher Rahmen und die Flexibilisierung der gesetzlichen Möglichkeiten, wie sie der Chef der sächsischen Staatskanzlei, Oliver Schenk, kürzlich ins Spiel gebracht hat, würde Reformen und Synergien bei den Sendeanstalten befördern und die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit stützen. Auch hier sehe ich gute Chancen, an die Diskussion anzudocken, die die Rundfunkkommission sich genau zu dieser Frage vorgenommen hat.

Dann könnten Senderverantwortliche und Gremien entscheiden, was die Menschen besser linear als Welle erreicht oder was besser als Angebot im Internet ankommt. Das würde die Gremien in ihrer Rolle stärken und gäbe die Verantwortung dorthin, wo sie hingehört: in die jeweiligen Sender vor Ort und deren Aufsicht.

Ein weiteres Buzz-Thema in der Debatte sind immer wieder die Kulturangebote und Ensembles der ARD. Mit dem Kulturportal in Mitteldeutschland hatten wir ein Zukunftskonzept vorgelegt.

Für Orchester, Big Bands und Chöre bedarf es einer Zukunftskonzeption

In Berlin hat man bereits 1994 den Erhalt der Orchester und Chöre aus Ost und West gewährleistet, indem man eine Trägergesellschaft gründete. Gesellschafter sind neben Deutschlandradio und rbb der Bund und das Land Berlin. Wir werden alle zusammen überlegen müssen, wie wir diese wertvollen Klangkörper vor populistischen Tagesstimmungen schützen. Selbstverständlich ist das nicht. So bin ich beispielsweise bei meinen letztjährigen Besuchen in den Landtagen Forderungen nach der Abschaffung der Klangkörper begegnet. Wir wollen auch hier eine langfristige Perspektive entwickeln und Ideen einbringen. Wir haben Lust auf Zukunft. Und zu der gehört auch, dass unser Publikum, aber auch Bildungs- oder Kultureinrichtungen unsere Programminhalte wo möglich weiternutzen können und Neues daraus entstehen kann.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist Open Source für wertvolle Inhalte

Viele Nutzerinnen und Nutzer werden "Prosumenten" sein, die digitale Inhalte selbst produzieren als auch konsumieren. Die Generation Alpha, die nach 2010 geboren wurde, ist voll digital - und aufgewachsen mit Hightech, im Alltag unterstützt von Künstlicher Intelligenz und gewöhnt an mobile Computer, sogenannte Wearables. Personalisierte Inhalte sind für sie normal, sie kennen nichts anderes.

Hier spielt auch das Thema Datensicherheit eine wichtige Rolle. Die öffentlich-rechtlichen Sender werden die Nutzungsdaten für ihre Angebote nutzen, unter Einhaltung striktesten Datenschutzes. Vor allem werden diese aber nicht zu kommerziellen Zwecken eingesetzt.

Ich bin überzeugt davon, dass Deutschland im Jahr 2030 einen reformierten, starken öffentlich- rechtlichen Rundfunk braucht, der den Menschen alle inhaltlichen Genres bietet. Unser Land wird noch stärker unter dem Stress unaufhaltsamer Veränderungen stehen. Die Gereiztheit gegenüber Institutionen, Entscheidungsträgern, gegenüber dem gesamten angeblichen "System", wird noch zunehmen. Die Rede ist von einer "Distrust Society".

ARD, ZDF und Deutschlandradio werden mehr denn je Dialog und Diskussion unter den Menschen ermöglichen und unterstützen, unabhängig und überparteilich. Dabei werden sie mit Fakten und fairen Verhaltensregeln Raum für ein vielfältiges Meinungsspektrum bieten. Damit sind sie eine seriöse Quelle für die demokratische Willensbildung in unserem Land.

Die Nähte unseres Gemeinwesens dürfen nicht reißen. Wir Öffentlich-Rechtliche können dazu beitragen, indem wir uns in den Dienst dieses Gemeinwesens stellen - so wie wir in der Corona- Krise Kitas, Schulen und Familien bei der Ausbildung ihrer Kinder unterstützt haben. Natürlich gibt es auch bei uns noch Kräfte, die an der alten Welt festhalten, die Programm nicht am Publikum, sondern an Interessengruppen orientieren wollen. Aber die meisten sind wie der eingangs zitierte Mitarbeiter des Automobilzulieferers: Der Wandel kann ihnen gar nicht schnell genug gehen. Diese Reformbegeisterten brauchen Verbündete in Politik und Gesellschaft.

Der Text erschien zuerst in der FAZ am 23. März 2021.