Horst-Joachim Kupka
Meine Stadt Winterberg
"Wer hier nicht mitmacht ist fehl am Platz", sagt WDR-Regionalkorrespondent Horst-Joachim Kupka. Winterberg und seine Dörfer, das ist outdoor pur auf bis zu 842 Metern Höhe und die Lust am Draußensein, sich zu bewegen, egal wie: auf dem Mountainbike, auf Langlauf- oder Abfahrtsskiern, mit Rennschlitten, zu Fuß oder auch mit dem Gleitschirm. Jeder, wie er es mag. Das ist Winterberg.
Kompromisse gibt es nicht in Winterberg. Mal eben in die Großstadt oder auf die Autobahn fahren? Das geht nicht. Winterberg und seine Höhendörfer sind weit weg, zwei Stunden nach Köln mindestens, in die Regionalstudios Arnsberg und Siegen dauert es auch eine bis anderthalb Stunden. Das kann Segen oder Fluch sein: die Gnade der großen Distanz oder weit weg von den Entscheidungsplätzen.
Wer die neuesten Kinofilme sehen, die hippsten Bands erleben, wer mit Künstlern, Filmemachern und Literaten plauschen will, wird verzweifeln. Wer schon als Kind von Kanada, dichten Wäldern, ferner Wildnis und Abenteuern geträumt hat, wer keine Angst hat, mal auf dem Rothaarsteig einem wildlebenden Wisent zu begegnen, der könnte angekommen sein zwischen Sprungschanze, Bobbahn, dem Kahlen Asten, schier endlosen Mountainbike-Trails und Loipen.
Ganz neue Welt für den Reporter
Ich bin das erste Mal als junger Reporter nach Winterberg gekommen, damals war Rennrodel-Weltmeisterschaft und Bob-Europameisterschaft, außerdem noch Deutsche Meisterschaft Ski-Nordisch. Für mich als sportbegeisterten Berichterstatter und gebürtigen Iserlohner bedeutete das eine andere Welt. Meine Gesprächspartner und Protagonisten waren plötzlich keine Politiker, Manager, normale Bürger mehr, sondern Rennrodler, Bobpiloten, Skispringer, Liftbetreiber, Trainer und Forstwirte.
Wir leben im zweithöchsten Dorf Westfalens, Neuastenberg, genau zwischen der höchstgelegenen Metzgerei des Landes und dem traditionsreichsten Skigebiet. Wir können bis nach Hessen gucken und ins benachbarte Wittgensteiner Land. Regelmäßig geht’s mit oder ohne Hund auf den Kahlen Asten. Der Rothaarsteig, eine der malerischsten Wanderrouten Deutschlands, führt nur 200 Meter entfernt von uns über den Rothaarrücken und den Kahlen Asten.
Über den bekanntesten Berg Westfalens führen zahlreiche Wanderrouten. Und die Hochheide auf dem Asten erlebe ich jeden Tag anders: vernebelt, von Sonne überstrahlt, die Krüppelkiefern von Schnee überzuckert. In diesen Tagen jedenfalls eiskalt. Eine andere Welt, wie gesagt, der Outback Westfalens.
Die Wetterbeobachter im höchsten Büro Nordrhein-Westfalens auf dem Astenturm haben mich schon seit Jahren akzeptiert. Ihr Job ist mindestens so ungewöhnlich wie meiner. Ich darf ohne Voranmeldung auf den Turm – oder noch höher – auf die meist windumwehte Terrasse des Astenturms. Früher hatte ich mal das Büro im Turm. Das war aber zu umständlich. Manchmal war die Straße völlig zugefroren. Dann fuhren die Wetterbeobachter auf Schlittschuhen nach Hause, denn das Wetter der Astenregion ist doch immer ganz anders als in den übrigen Teilen des Landes, vor allem kälter und windiger.
Sonneneinstrahlungen, Schneehöhen und Kälteprognosen, das sind für die Winterberger keine Nebensächlichkeiten. Wer sich hier übers Wetter unterhält, der führt keinen Smalltalk, sondern redet mit Gastronomen, Hoteliers, Einzelhändlern über entscheidende Dinge. Schnee, das bedeutet für die wenigsten Winterberger Spaß oder Party, sondern harte Arbeit. Schnee, das ist der Stoff, der die Wirtschaft hier schmiert, das ist positiver Stress für viele auch rund um die Uhr. Vom Schnee profitieren alle. Die Wintersportarena mit ihren zahlreichen Vierer- und Sechser-Sesselliften gilt nicht ohne Grund als das attraktivste Skigebiet nördlich der Alpen. Die Liftbetreiber arbeiten rund um die Uhr, wenn Kunstschnee produziert werden soll. Geregelte Arbeitszeiten sind in der Saison hier gänzlich unbekannt.
Ein Schnack am bullernden Ofen
Zwischen den Pisten, an den Wanderrouten und den Mountainbike-Strecken befinden sich urige Hütten, die Anlaufpunkte für Après-Ski, Brotzeit oder mal ein schnelles Bier sind. Hier treffen sich Touristen, Winterberger und eben auch Reporter. Bernd Voss bewirtschaftet die Schwedenhütte im Höhendorf Altastenberg. Ein Schnack zwischen bullerndem Ofen und dicken Stämmen: Bernd Voss weiß alles, kennt jeden und erzählt gerne, manches hinter vorgehaltener Hand. Auf den Hütten erfährt jeder fast alles, ob er es wissen will oder nicht. Auch das ist typisch Winterberg, genau wie die Sprungschanze als Wahrzeichen der Sportstadt oder die Bobbahn. Außerhalb der relativ kurzen Schneesaison steht Mountainbiken, Wandern und Wellnessen ganz hoch im Kurs.
Der Bob-Virus kostet 70 Euro
In anderen Städten werden die Kinder zum Turnen, Fußball, Handball oder anderen Sportarten kutschiert. Ich habe unsere Söhne zum Eiskanal, zur Bobbahn gebracht und abends wieder abgeholt. Sie sollten Bobpiloten oder Anschieber werden. Die Hochgeschwindigkeitsstrecke ist eine der schnellsten Bahnen der Welt, was auch unsere Söhne leidvoll erfahren mussten. Glücklicherweise haben sie alle Stürze gut überstanden. Und trotzdem habe ich manchmal wirklich Angst gehabt. Für 70 Euro kann jeder, der keine Herz- oder Rückenprobleme hat, mit erfahrenen Bobpiloten die Bobbahn hinunter düsen. Spätestens dann sind die meisten vom Bob-Virus infiziert.
Der direkte tägliche Kontakt mit Trainern und Hochleistungssportlern ist eigentlich Alltag. Doch wenn ich hoch oben über dem Start der Bobbahn den Sonnenuntergang und den Blick auf Winterberg genieße, dann wird schnell klar, dass Winterberg keine gewöhnliche Stadt ist, sondern auch die Urlaubsstadt Nr. 1 in NRW, wohl zu Recht. Tourismus ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor. In früheren Zeiten mussten die Winterberger ihr Geld als fahrende Sensen-händler hart verdienen. Diese Zeiten sind längst vorbei. Aber geschäftstüchtig sind die Winter-berger bis heute geblieben. In der Kernstadt leben gerade mal ein paar tausend Einwohner, aber es wimmelt von Boutiquen, Restaurants und Hotels. Ein Bummel mit Freunden, Familie, Kollegen durch die Kneipenszene Winterbergs wird nicht langweilig. Alle wundern sich, dass in solch einer kleinen Stadt so viel los ist. Und dass man bei einer winterlichen Kneipentour keine Liftbetreiber oder Wintersportler trifft, ist auch nicht verwunderlich. Die müssen nämlich morgens wieder ganz früh raus.
Horst-Joachim Kupka ist Iserlohner, arbeitet seit 1994 als Regionalkorrespondent für die WDR-Regionalstudios Arnsberg und Siegen. Er war Stadionsprecher in der Eishockeybundesliga, arbeitete für Regionalzeitungen, Privatradios und studierte in Münster Publizistik und Geschichte, lebte in Houston (Texas) und jetzt mit Frau und Hund in Winterberg-Neuastenberg.
Dieser Artikel erschien in der WDR Print, Ausgabe Februar 2015.