Stichtag

12. Juni 1989 - Michail Gorbatschow besucht die Bundesrepublik

12. Juni 1989, 11.15 Uhr: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow landet mit seiner Frau Raissa auf dem Flughafen Köln/Bonn zu einem viertägigen Staatsbesuch. Der Empfang ist frenetisch. Als er auf dem Bonner Ratshausplatz eintrifft, skandiert die Menge "Gorbi, Gorbi". Gefeiert wird er auch in Stuttgart, wo rund 50.000 Menschen die Straßen säumen. Mehrmals nimmt der Kreml-Chef protokollwidrig ein "Bad in der Menge". Bei seinem Auftritt vor 7.000 Stahlarbeitern der Dortmunder Hoesch-Werke schlägt ihn der Betriebsratsvorsitzende unter dem stürmischen Beifall der Kollegen für den Friedensnobelpreis vor. Ein Wunsch, der ein Jahr später erfüllt wird.

Die Begeisterung der deutschen Öffentlichkeit, die in den Medien "Gorbimanie" genannt wird, reagiert auf die neue Politik Gorbatschows. Als er 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wird, propagiert er für die sowjetische Gesellschaft "Glasnost" ("Offenheit") und "Perestroika" ("Umbau"). Den Kalten Krieg will er durch Abrüstungsverhandlungen beenden. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ist damals skeptisch: Gorbatschow sei zwar nie in Hollywood gewesen, er verstehe aber etwas von Public Relations (PR). "Goebbels verstand auch was von PR", sagt Kohl in einem Interview im Oktober 1986. Der Vergleich beeinträchtigt jahrelang das deutsch-sowjetische Verhältnis.

"Das politische und soziale System frei wählen"

Im Oktober 1988 fährt Kohl schließlich nach Moskau. Zu deutschen Medien sagt Gorbatschow: "Ich trage nichts nach." Das Verhältnis zwischen den beiden entspannt sich. Ein gutes halbes Jahr später kommt Gorbatschow in die Bundesrepublik. Am 13. Juni 1989 unterzeichnen die beiden eine "Gemeinsame Erklärung". Die Sowjetunion bekräftigt darin erstmals gegenüber einem westlichen Land das Recht jeden Staates, "das eigene politische und soziale System frei zu wählen". Besonderes Ziel beider Staaten sei der "Aufbau eines gemeinsamen europäischen Hauses", in dem auch die Beziehungen zu den USA und Kanada ihren Platz hätten. Darüber hinaus werden elf weitere Abkommen unterschrieben.

In drei Vier-Augen-Gesprächen kommen sich die zwei Politiker auch menschlich näher. Am letzten Abend, so Kohl in seinen "Erinnerungen", sei er mit Gorbatschow nach Mitternacht noch zum Rheinufer gegangen und habe ihm dort klargemacht, dass ein gemeinsames europäisches Haus nie bewohnbar sein würde, wenn Deutschland weiterhin getrennt bleibe. "So sicher, wie der Rhein zum Meer fließt, so sicher wird die deutsche Einheit kommen", soll Kohl gesagt haben. Gorbatschow habe nicht widersprochen. Zum Abschluss seines Besuchs erklärt er: "Die Mauer kann wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen entfallen, die sie hervorgebracht haben".

"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"

Am 7. Oktober 1989 nimmt Gorbatschow in Ost-Berlin an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung teil. Vor der Presse betont er die Notwendigkeit von Reformen und sagt: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Gleichzeitig finden in mehreren Städten der DDR Demonstrationen statt, die brutal aufgelöst werden. Als am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wird, hält sich Gorbatschow an die "Gemeinsame Erklärung" und greift militärisch nicht ein - wie andere Kremlchefs vor ihm bei ähnlichen Anlässen, etwa beim Aufstand in Ungarn 1956 und beim Prager Frühling 1968.

Als es im Juli 1990 bei den Verhandlungen im Kaukasus um die deutsche Wiedervereinigung geht, spielt das mittlerweile enge Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow eine zentrale Rolle. Die beiden verkünden den Durchbruch. Zum Zeitpunkt der Vereinigung soll Deutschland "seine volle und uneingeschränkte Souveränität" erhalten.

Stand: 12.06.2014

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