Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Anders als auf Computer-Festplatten gibt es in ihren Gehirnen keine fertigen Programme, die man einfach nur starten muss. Mal unbeholfen, mal aufbrausend, mal trotzig müssen sie ihre Welt selbst begreifen. Was mittlerweile jedem einleuchtet, ist noch gegen Mitte des 20. Jahrhunderts eine revolutionäre Theorie - aufgestellt von Entwicklungspsychologe Jean Piaget. "Alles, was man dem Kinde beibringt, kann es selbst nicht entdecken", lautet sein Credo.
Indem er mit Kindern spielt, ihnen Aufgaben stellt und sie bei der Lösung genau beobachtet, will er das kindliche Denken und damit die Grundlage der menschlichen Entwicklung verstehen. Die Ergebnisse seiner lebenslangen Forschung sind heute noch in Teilen anerkannt.
Forschung in der eigenen Familie
Die wichtigsten Erkenntnisse verdankt er dabei seinen eigenen drei Kindern. "Für die Erziehung war meine Frau zuständig, ich habe vor allem beobachtet", so Piaget. Auch seine Ehe gleicht eher einem Arbeitsverhältnis: Seine Frau schreibt jeden Tag auf, was die Kinder gesagt, getan und gemacht haben. Er entwirft daraus eine Stufentheorie der kindlichen Entwicklung. 1936 veröffentlicht er eines seiner wichtigsten Werke: "Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde".
Piaget ist Wissenschaftler durch und durch. Geboren am 9. August 1896 als Sohn eines gewissenhaften Literaturprofessors und einer psychisch labilen Mutter in Neuchâtel, verfasst er schon in jungen Jahren Abhandlungen. Seine erste über einen Albino-Spatz schafft es gleich in eine renommierte naturgeschichtliche Zeitschrift. Da ist Piaget gerade zehn Jahre alt.
Später werden Teichschnecken sein Spezialgebiet, Hobbyforscher aus dem ganzen Land schicken ihre Schneckenfunde zu ihm nach Hause. Bereits vor dem Biologiestudium wird er zur wissenschaftlichen Kapazität. Als er an der Uni einen Intelligenztest für Kinder überarbeiten soll, sieht er seine Chance, seine biologischen und erkenntnistheoretischen Interessen zu verbinden.
Sympathisch und neugierig
Trotz seiner Popularität auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie bleibt Piaget nahbar und sympathisch. Selbst als Professor mit 70 Jahren kommt er noch mit einem klapprigen Fahrrad zur Universität und parkt es neben den Autos seiner Studenten. Und Piaget bewahrt sich stets seine kindlichen Seiten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1980 trägt er Bindfäden, Taschenmesser und Regenwürmer in der Hosentasche herum.
Heute wird seine berühmte Theorie, wonach sich Kinder in aufeinander aufbauenden Stufen entwickeln, immer wieder kontrovers diskutiert. Einige Psychologen bezeichnen sie inzwischen als naiv. Die Entwicklung eines Kindes verlaufe viel kleinteiliger und nicht derart normiert. Dennoch: Piagets Pionierarbeit bleibt eine wichtige Grundlage für die jetzige Forschung.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Kerstin Hilt
Redaktion: Gesa Rünker
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