Dieser Text „Neither“ – „Weder“ ist eine philosophische Reflexion über das, was passiert, wenn das „Selbst“ auf das „Unselbst“ trifft, ein „hin und her in Schatten“. So lakonisch hingeworfen diese Zeilen wirken, so ausladend - klanglich wie zeitlich – hat sie Feldman in seiner Partitur aufbewahrt.
Bevor dieses dreiviertelstunden Gebilde in der Salzburger Kollegienkirche mit Sarah Aristidou und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien entfaltet wurde, durfte man sich mit „String Quartet and Orchestra“ und dem Minguet Quartett (wieder) mit der Klangwelt von Morton Feldman, dem 1987 verstorbenen amerikanischen Komponisten, vertraut machen.
Über die Dauer von einer knappen halben Stunde verbreiteten sich Klänge von schillernder Vielfalt. Man lässt als Hörer alles zurück, was man gelernt hat: Formverläufe, harmonische Strukturen, affektive Assoziationen. Man begibt sich in eine klangliche Bilderwelt. Nichts ist konkret, so wie beim Domfenster von Gerhard Richter in Köln. Trotzdem fühlt man sich geborgen, weil die Klänge eine seltsame Vertrautheit ausstrahlen. Mal sind es singende Kristalle, mal sind es Wellenwogen, dann ein hörbares Wetterleuchten. Natürlich erkennt man immer wieder das wiederkehrende Motiv im Streichquartett, das der Autor im Programmheft mit Anton Webern zusammenbringt. Aber das, was Musiktheoretiker thematisch-motive Arbeit nennt, sind winzige Inseln. Beim Blick nach oben in der Kollegienkirche sieht man in einer transparenten Folie gespiegelt das ganze ORF-Orchester. Wohl 100 Musiker sind als verschwommene Farbpunkte zu erkennen tun in bewundernswerter Weise ihr Werk - als Klangerzeuger. Bild wird zum Klang und Klang zum Bild, angeleitet von dem Feldman-Experten Roland Kluttig, der kurzfristig eingesprungen war.
Nach der Pause dann die „Oper“. Das Quartett wird durch den Sopran ersetzt, ansonsten scheint die Konstellation ganz ähnlich, auch die Vorgehensweise des Komponisten, nämlich als ein Aneinanderreihen von abgrenzten und somit wahrnehmbaren Klangereignissen, bei denen man sich nicht die Frage stellt, ob sie eine Ausdeutung des Textes darstellen, den man sowieso nicht versteht, nicht verstehen soll. Sarah Aristidou singt ihre Absätze die meiste Zeit auf einem Ton, mal bebt die Stimme, mal gibt es Sekundschritte, ganz selten rhythmisch gestoßene Ausrufe oder eine kurze Floskel, die den Raum eines Tritonus ausfüllt. Sie vollführt das mit einer Unbedingtheit, Konzentriertheit und Kraft, in der sie sich vollkommen entpersonalisiert, vollkommen in ihr eigenes Instrument verwandelt, was dann manchmal sogar gewalttätig wirkt, wenn sie sich den Posaunen entgegenstellt oder dem Kratzen des Streichorchesters.
Anders als in „String Quartet and Orchestra“ ist hier nichts schön. Das Ende ist ein Schrei, der tosenden Beifall im vollbesetzten Haus auslöst. Die Musik klingt in „Neither“ wie aus einem Industrieareal: Sirenen, deformierte Maschinen, die ächzen, Klangstäbe, die wirken wie Hammerschläge von Stahlarbeitern.
Man muss noch einmal im Programmbuch nachlesen, dann weiß man, wo das herkommt. Die Musik sei aufgebaut als „unerbittlich andauernder“ Ablauf irregulärer „aus dem Tritt geratener“ Rhythmen.
Am Ende stellt sich bei dieser im herkömmlichen Sinn komplett ausdruckslos gedachten Musik doch Beklemmung und auch Überwältigung ein. Ist „Neither“ also doch eine Oper?
Eine Aufführung am 13.08.2021
Besetzung:
Sarah Aristidou (Sopran)
Minguet Quartett
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Musikalische Leitung: Roland Kluttig